KOMMENTAR | Die Prävalenz von Kreidezähnen ist in den letzten Jahrzehnten explosionsartig angestiegen. Trotzdem hat es bisher noch niemand für nötig erachtet, der Sache auf den Zahn zu fühlen – obwohl wir Unmengen Probenmaterial hätten.
Störungen in der Zahnschmelzbildung gab es schon immer. Allein die 1 % der Bevölkerung, die unter einer Zöliakie leiden, haben häufig aufgrund enteraler Resorptionsstörungen mit einer gestörten Zahnschmelzbildung und ihren Auswirkungen zu kämpfen. Die Auswirkungen sind oft tiefgreifend, sie können bei einer starken Ausprägung der Schmelzstörung infolge einer Dentinbeteiligung auch mit pulpitischen Beschwerden einhergehen, sodass Wurzelbehandlungen betroffener Zähne schon im Kindesalter indiziert sind. Das alles ist nichts Neues, auch wenn man es als Zahnarzt in der Praxis doch sehr selten sah. Aber seit geraumer Zeit nimmt die Häufigkeit klinisch relevanter Schmelzbildungsstörungen stark zu. So stark, dass man in Fachkreisen bereits 2018 angesichts der explodierenden Häufigkeit von einer Volkskrankheit sprach.
Als mögliche Ursachen dieser Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation – kurz MIH – wurden mal Bisphenol A, mal Antibiose in der Schwangerschaft, ein hohes Alter der Mutter, „gefährliche Strahlungen“ im Radio- und Mikrowellenbereich, Infektionskrankheiten, Dioxin oder eine gestörte Albumin-Synthese diskutiert. Die Bisphenol-These wurde bereits vor vielen Jahren revidiert. Der zunächst verhaltene, später dann explosionsartige Anstieg der Häufigkeit dieser rätselhaften Entität begann in den 80er Jahren – das Niveau hat sich mittlerweile auf 15,3 % gesteigert. Der Anstieg fällt zeitlich in das Fenster, in dem Pestizide ihren Siegeszug antraten – was selbstverständlich nur auf eine zufällige Synchronizität hindeuten kann, denn auch wenn es unglaublich klingen mag: Ob hier eine Korrelation vorliegt, hat bis dato niemand untersucht.
Dieses Faktum ist besonders irritierend, da es eine große Anzahl von Zähnen gibt, die aufgrund einer Schmelzbildungsstörung extrahiert wurden. Anstatt diese aber einer Analyse zuzuführen, werden sie offensichtlich im Mülleimer entsorgt. Die neueste, vom Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) durchgeführte Zahngesundheitsstudie weist eine – bis vor 20 Jahren noch undenkbar hohe – Prävalenz von 15,3 % bei Kindern nach, mit einer Extraktionshäufigkeit von 0,9 %. Es sind bereits tausende von Zähnen und es kommen täglich neue hinzu, die darauf warten, einer biochemischen Analyse unterzogen zu werden.
Wegen der oftmals erheblichen Konsequenzen sind die ermittelten Daten zur Häufigkeit aus meiner Sicht Horrorzahlen. Schließt sich doch an die Diagnose nicht selten eine für die Betroffenen schmerzhafte und aufwendige Restauration der Zähne an. Je nach Umfang und Tiefe der beteiligten Zahnsubstanz kann eine völlige Schmerzausschaltung manchmal nicht gewährleistet sein – mit zum Teil erheblichen psychologischen Konsequenzen. Neben einer möglichen frühkindlichen Traumatisierung durch die Behandlung ist die Liste der unerwünschten Konsequenzen sehr lang. So weigern sich Zusatzversicherungen, beim Auftreten erheblicher Schmelzdefekte im Kindesalter, eine Police zu gewähren. Die Folgekosten einer lebenslangen, hochwertigen Sanierung und Konservierung sind hoch.
Um der Ursache endlich auf die Spur zu kommen, mahnte ich bereits seit vielen Jahren eine konzertierte Sammlung MIH-betroffener Zähne an allen zahnmedizinischen Fakultäten mit anschließender standardisierter Analyse an. Dabei sollten bestimmte Substanzen im Fokus sein. Denkbar sind organische Phosphate, die potenziell mit dem Aufbau des Zahnschmelzes und der Resorption der dafür benötigten Mineralien interferieren können. Brauchbare Analyseverfahren existieren bereits. Zum Beispiel wäre es mithilfe einer Liquid-Chromatographie-Massenspektometrie (LC-MS) möglich, Pflanzenschutzmittel und andere für eine Entstehung infrage kommenden Substanzen zu detektieren.
Warten wir also nicht mehr – fangen wir endlich an!
Bildquelle: Torsten Dederichs, Unsplash