Aus meiner Arbeit im Gefängnis weiß ich: Anwälte wollen gute Nachrichten um jeden Preis. Dabei lügen sie Klienten eher an, als dass sie ihre Probleme auffangen – und ich darf dann emotional aufräumen. Ein Fallbeispiel.
Stellen Sie sich vor, Sie werden festgenommen.
Die Polizei klingelt bei Ihnen daheim, trampelt ungefragt und ohne die Schuhe auszuziehen in ihre Wohnung, einen Haftbefehl in der Hand. Sie kommen nicht zu Wort. Die Beamten leiern ein paar auswendig gelernte Sätze herunter von wegen Recht auf einen Anwalt und so weiter. Sie können nicht zuhören. Die Beamten packen Sie an den Schultern, den Armen, den Handgelenken. Jeder Griff sitzt. Sie hätten gar keine Zeit, sich zu wehren. Außerdem sind Sie so überrascht, dass Ihr Körper überhaupt keine Kraft zur Gegenwehr aufbringen kann. Cortex und Kleinhirn sind überflutet. Sie reagieren nur noch. Stammhirn. Freezemodus.
Alles geht schnell und schon sitzen Sie im Gitterexpress ins nächste Zuchthaus. Die Welt fährt wie ein Film mit einem zu komplizierten Plot an Ihnen vorüber. Sie haben längst den Faden verloren. Zugangsstation. Ausziehen vor fremden Menschen, bücken, Arschbacken spreizen und husten. Maximale Demütigung. „… wegen der Sicherheit …“ „… Waffen oder Drogen verstecken …“ Sie nehmen nur Bruchstücke der Anweisungen wahr. „Wo bitte sollte ich Drogen verstecken, wenn ich hier nackt vor euch stehe?“, denken Sie noch, geben sich die Antwort aber dann selbst.
Graublaue, abgetragene Häftlingskleidung, fremde Unterhosen, kratzige graue Socken und weiße Feinripphemden aus den 80er Jahren. Eine Zahnbürste und ein Handtuch und ab in den Haftraum. Grauer Beton. Kalt. Kaum Licht. Das Fenster ist so hoch, dass man nur hindurchsehen kann, wenn man auf das Stockbett oder den Schrank klettert. Der Fernseher funktioniert nicht. Die Stille ist laut.
Tage vergehen. Sie verlieren nach und nach Ihr Zeitgefühl. Sind sie nun einen Monat hier oder erst drei Tage? Der Beamte sieht müde aus. Er öffnet die schwere Haftraumtüre. Der Schlüssel scheppert mit schmerzender Lautstärke. „Anziehen. Anwalt.“ Ein Lichtblick.
Sie betreten die Anwaltskabine. Ein kleiner Raum, ungefähr so groß wie Ihre Gästetoilette zu Hause. Sie müssen kurz die Luft anhalten, als Sie daran denken – an Ihr Zuhause. Ein Tisch in der Mitte, zwei Stühle. Ein Herr im Anzug betritt den Raum und setzt sich Ihnen gegenüber. Ihr Blick fällt auf seinen akkurat frisierten Seitenscheitel. Der Geruch von Aftershave trifft auf ihr limbisches System. Die Mitgefangenen riechen alle gleich. Auch Sie selbst haben inzwischen diese Mischung aus kaltem Rauch, Schweiß, Staub und Schmierseife angenommen. Diese Brise von Normalität in der Nase verheißt Hoffnung. „Guten Tag, mein Name ist Tannhauser. Ich vertrete Sie in Ihrem Fall.“ Das erste Mal seit Tagen, dass Sie gesiezt werden. Sie richten sich innerlich ein wenig auf, Ihre Stimme bricht dennoch, die Tränen laufen lautlos, Sie haben keine Chance, das zu kontrollieren. „Wie lange muss ich denn noch hierbleiben?“
Herr Tannhauser hebt die Hände, als wolle er sich verteidigen: „Sie können mir glauben, ich und meine Kollegen, wir arbeiten mit Hochdruck an Ihrem Fall, um Sie so SCHNELL. WIE. MÖGLICH. hier rauszubekommen. Wir haben jetzt die Akten vom Gericht angefordert, der nächste Schritt wird sein, dass wir eine Haftprüfung beantragen. Schließlich ist das mit der Verdunkelungsgefahr bei Ihnen ja absurd. Sie haben Frau und Kinder!“ „Wie lange wird das dauern? Ich halte das hier echt nicht mehr aus.“ „Wir gehen davon aus, dass wir bis Ende der Woche die Akten bekommen und Anfang nächster Woche die Haftprüfung einreichen.“ „Dann muss ich noch fast zwei Wochen hier drinbleiben?“ Jetzt laufen die Tränen nicht mehr so lautlos. Sie denken an Ihre Frau. An ihr erstarrtes Gesicht, als die Polizisten in der Wohnung einfielen. An die Katze, die in schierer Panik die Treppe hochgeschossen ist. An ihre zweijährige Tochter, die sich lautstark weinend in die Arme Ihrer Frau geflüchtet hat. Sie heulen so hemmungslos, wie Sie es zuletzt als kleiner Junge gemacht haben, als Ihr geliebter Hund gestorben ist.
Der Anwalt wird unruhig. „So beruhigen Sie sich doch. Ich hole Sie ja hier raus. Aber ein bisschen Geduld brauchen wir …“ Er erhält keine Antwort von Ihnen. Sie wollen so viel wissen, es muss so viel besprochen werden, aber alles, was Sie herausbekommen, ist: „Ich schaff das hier drin nicht.“ Der Anwalt wird expliziter: „Ende nächster Woche sind Sie hier draußen. Die Haftprüfung wird in jedem Fall positiv für Sie ausgehen. Es ist nur ein Betrug. Sie haben niemanden umgebracht. Und Sie haben ja schließlich ein stabiles soziales Umfeld. Nächstes Wochenende können Sie wieder mit Ihrer Frau frühstücken.“ Der Anwalt wirkt nervös, aber diesen Eindruck schieben Sie zur Seite. Sie krallen sich an seinen Worten fest „Nächstes Wochenende … mit meiner Frau frühstücken.“ Sie beruhigen sich. Der Anwalt muss dann auch weiter. Andere Klienten warten. Sie haben wieder Hoffnung.
Was der Anwalt Ihnen nicht gesagt hat: Es hat den Kollegen Staatsanwalt viel Mühe gekostet, einen Haftbefehl gegen Sie zu erwirken. Ihnen wird banden- und gewerbsmäßiger Betrug in größerem Stil vorgeworfen und es geht um nicht wenig Geld. Bei einer Verurteilung droht Ihnen eine Haftstrafe von drei bis fünf Jahren oder mehr, und der Staatsanwalt hat die regelmäßigen Familienurlaube zu Onkel André in Spanien als Fluchtanreiz im Ausland geltend gemacht. Außerdem möchte niemand der Herren Ermittler sehen, dass Sie mit Ihrem Chef und den Arbeitskollegen Ihre Aussagen abgleichen.
Die Haftprüfung wird keinen Erfolg haben. Eher fließt das Wasser die Donau hinauf. Der Anwalt wird sie trotzdem beantragen … erstens bringt es ihm Geld und zweitens gibt es Ihnen einen Funken Hoffnung. Sie werden mindestens bis zum Prozess in diesem Gefängnis sitzen. Und dieser wird frühestens in sechs Monaten stattfinden. Nachdem Ihr Chef und noch sechs Arbeitskollegen mitangeklagt sind, wahrscheinlich eher in einem Jahr. Ermittlungsarbeit dauert.
Anwälte sind keine Seelsorger. Und haben dahingehend oft auch wenig Kompetenzen. Sie können die persönlichen Katastrophen ihrer Klienten emotional meist schlecht kompensieren. So sind zumindest meine Beobachtungen. Und Anwälte glauben die Märchen, die ihre Mandanten ihnen auftischen. Ich habe mit einigen Anwälten darüber gesprochen. Die meisten vertreten die Version des Mandanten. Gnadenlos. Wenn der sagt, er ist unschuldig, ist der Anwalt überzeugt, er ist unschuldig. Wenn die Version des Mandanten zu unglaubwürdig ist, gibt der Anwalt das Mandat ab oder überzeugt den Mandanten auf eine milde Strafe, statt den Freispruch hinzuarbeiten. „Erzählen Sie mir nichts, was ich nicht wissen darf.“ Das soll ein Satz sein, der oft in den Anwaltsgesprächen fällt. Es gibt sicher Advokaten, die anders arbeiten, aber mit denen hatte ich eben bislang keinen Kontakt.
Vielleicht ergibt sich aus ebendiesem Konstrukt, dass der Anwalt als Person schnell mit den negativen Emotionen seines Klienten überfordert ist. Vielleicht hat er Angst, dieser könnte ein Geständnis hervorheulen und dann wären die Chancen auf Freispruch den Bach runter. Oder aber Anwälte sind grundsätzlich strukturliebende Menschen, die mit Gefühlseskalationen auf der Enge von vier Quadratmetern einfach schlecht umgehen können.
Was es auch immer ist – ich muss es oft richten. Oder passender: Es wieder zerstören. Dieses Hoffen, das falsche. Muss meinem Klienten dann mitteilen, dass er höchstwahrscheinlich nicht nächste Woche heimkommt, dass er den Geburtstag der Tochter, Weihnachten und auch Neujahr hier drin verbringen wird. Viele meiner Klienten haben dies schon geahnt, andere stürzen in ein tiefes Loch der Abwehr und Aggression. Schreien mich an, dass ich doch keine Ahnung habe und keine Anwältin sei, um sich im nächsten Moment zu entschuldigen und sich der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hinzugeben.
Ich halte das aus, weil ich weiß, dass es vergeht. Der Mensch gewöhnt sich an die gottlosesten Umstände. In ein paar Tagen wird es besser sein, in ein paar Wochen wird mein Klient einen Rhythmus gefunden haben. Er hat vielleicht Arbeit, den ersten Besuch der Ehefrau und ein paar Leute auf dem Gang, mit denen er sich gut versteht. Er hat seinen Haftraum eingerichtet und weiß, welcher Beamte ein Arschloch ist und mit wem man gut reden kann.
Und er kann mit mir sprechen. Nicht immer wird er sich danach besser fühlen, aber er weiß jetzt, dass er sich auf mich verlassen kann. Dass ich ihn nicht anlüge. Auch, wenn es wehtut.
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