Es fängt an wie ein ganz normaler Rettungsdiensteinsatz: Der Mann wirkt apathisch, doch äußerlich scheint alles in Ordnung. Wenige Stunden später ist er tot. Haben wir einen schrecklichen Fehler gemacht?
Es ist einer dieser grauen, nebligen Novembertage, an denen die Welt wie ein alter, monochromer Film wirkte. Vero und ich rollen im Rettungswagen durch die Straßen. Der Alarm hat uns vor wenigen Minuten vom Kaffee weggejagt: „Unklar verletzt. Notruf kommt über die Freundin. Patient männlich, circa 40.“ Kein Blaulicht-Krimi, keine Heldenposse. Nur ein Einsatz, so wie ihn niemand verfilmen würde. Routine, denken wir. Doch die Realität schreibt ihre eigenen Drehbücher, weit entfernt von der dramaturgischen Klarheit eines Films.
Manchmal sehen wir Dinge, ohne sie wirklich zu sehen. Und manchmal sehen wir nicht, was direkt vor unseren Augen liegt. Es sind genau diese Einsätze, die mich manchmal daran zweifeln lassen, ob ich für diesen Job gut genug bin. Und die Realität ist einfach der bessere Geschichtenerzähler.
Die Wohnung ist emotional so kalt wie das Weltall, die Luft so still, dass sie schmerzt, die Wände wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Es riecht nach ungelüftet. Im Wohnzimmer sitzt der dreitagebärtige Mann mit der schwarzen Mangafrisur und hält die Schultern, als hängen Tonnen an Gewicht daran. Sein Blick ist fest, aber leer, so als hätte er längst mit der Welt abgeschlossen.
„Wie geht es Ihnen?“ Er antwortet nicht. Nur ein kaum merkliches Nicken, als hätte seine Stimme ihn verlassen, aber er zeigt keine Anzeichen für das Chaos, das in seinem Kopf tobt. Seine Freundin steht daneben. „Er ist … komisch. So komisch. Ich komme überhaupt nicht mehr durch.“ Sie räuspert sich und fängt an, zu weinen. „Wir hatten Streit. Ich bin dann weg. Und nach einer halben Stunde saß er einfach so da.“ Vero und ich nicken und fangen an, zu untersuchen. Alles scheint normal, und doch fühlt sich nichts normal an.
Die Auffälligkeit an der linken Kopfseite ist so klein, dass sie beinahe verschwindet, wenn das Licht sich anders bricht. „Vielleicht ein Kratzer“, sagt Vero, mit der Wüstensand-Pragmatik, die ich so an ihr schätze. Aber irgendetwas lässt mich nicht los. Es sieht harmlos aus. Zu harmlos.
Könnte er vergiftet sein oder eine Infektion haben? Irgendetwas in Richtung Meningitis? Aber ohne Fieber? Oder hat er vielleicht einen Tumor? Oder liegt eine Hirnblutung vor? „Hat Ihr Freund in letzter Zeit vermehrt über Kopfschmerzen geklagt oder ist mal auf den Kopf gestürzt?“, will ich wissen. Die Frau verneint, erwähnt aber einen Suizidversuch in der Vergangenheit und eine Depression, die aber medikamentös sehr gut eingestellt ist. Die Hypothyreose sei mittels L-Thyroxin 100 µg ebenfalls gut im Griff. Er habe auch leichte Blutdruckprobleme, nehme aber nichts dagegen. Dann ist da noch der Streit. Mir kommt eine Blutdruckspitze mit anschließender Hirnblutung in den Sinn. Aber wie auch immer – vor Ort wird es nicht besser. Also raus in den Rettungswagen.
Aufgrund der unklaren Lage entscheiden wir uns, den Mann mit einem venösen Zugang zu versorgen und zu monitoren. Wir entscheiden uns für den Stroke und melden den Mann für den neurologischen Akutbereich an. Das Zeitfenster ist optimal. Aber es kommt anders. Ganz anders.
Wenige Stunden später ist der Mann tot. Und wir stehen da wie Statisten in einem Film, dessen Drehbuch wir nicht verstanden haben. Kein Knall, keine dramatische Musik, keine heroischen Gesten, keine Heldengeschichte. Nur die kühle Realität, die keinen Raum lässt für die Guten oder die Bösen, die wir aus Filmen kennen. Sie ist chaotisch, still, oft unsichtbar. Eine Realität, in der sich der Mann mit einer Pistole in den Kopf geschossen hatte. Es handelt sich dabei um eine Liliput-Waffe des Kalibers 4,25 mm, die mangels Einsatzmöglichkeit nicht mehr gebaut wird und die sich der Mann illegal besorgt hatte. Das winzige Projektil hatte zunächst auch keine Symptome erzeugt, deshalb konnte der Mann die Waffe wieder unter seinem Bett verstecken. Was er in diesem Moment wohl dachte? Vielleicht, dass es ein Fehler war und dass er Glück hatte, noch zu leben? Vermutlich erzeugte der Schaden am Hirngewebe die Aphasie, die wir als Zeichen eines Schlaganfalls missverstanden. Ich dachte immer, dass jedes Kaliber Wunden erzeugt, die man auch sicher als Schussverletzung erkennt – so wie bei einem Einsatz vor einiger Zeit, als der Amokläufer seiner Geliebten mit einer 38er durch den Hinterkopf geschossen hatte, Hirnmasse herausquoll und die Augen durch das angeschwollene Gewebe aus den Höhlen traten. Aber so war das nicht. Wir hatten eine Wunde, die entfernt an einen offenen Pickel erinnerte. Oder eben an einen Kratzer.
Hätten wir etwas anders machen können? Ja, vielleicht. Eine Schockraumanmeldung in einer Neurochirurgie, Transportpriorität, und nicht weiter herumtrödeln. Vorausgesetzt, wir hätten die Sachlage erkannt. Auch in der Klinik kam zunächst niemand auf die Idee einer Schussverletzung. Erst im CT zeigte sich das ganze Ausmaß. Aber an dieser Stelle war die Messe längst gelesen.
Es ist leicht, im Rückblick Fehler zu analysieren, doch in jenem Moment handelte niemand falsch – wir alle arbeiteten innerhalb der Grenzen unserer Wahrnehmung. Was dieser Einsatz jedoch lehrt, ist, dass selbst die unscheinbarsten Details etwas verbergen können, das größer ist als wir selbst. Manchmal fordert uns unser Beruf nicht nur dazu auf, zu sehen, sondern das Unsichtbare zu erkennen – eine Aufgabe, die mit jeder Entscheidung eine Gratwanderung bleibt. Aber so ist der Rettungsdienst. Das Unerwartete zu erwarten, ist nicht immer einfach und manchmal schlicht unmöglich. Dann sehen wir Wunden, aber nicht ihren Ursprung. Wir hören einen Ton, aber nie die ganze Melodie. Und manchmal, wie bei diesem Mann, hält die Realität ihre Antworten so nah an der Brust, dass wir nur das Rauschen spüren, wenn sie an uns vorbeizieht.
Die Realität des Rettungsdienstes ist kein Abenteuerspielplatz für Helden, sondern ein Labyrinth aus Entscheidungen – manche richtig, manche falsch. Und manchmal führt uns die Dunkelheit durch die stillen Korridore unserer Unwissenheit. Wie oft haben wir solche Details schon übersehen? Und wie oft haben wir sie doch rechtzeitig erkannt? Vielleicht liegt die Antwort irgendwo dazwischen.
Bildquelle: Gift Habeshaw, Unsplash