Ein junger Mann stellt sich mit plötzlicher Sehminderung vor. Jetzt tickt die Uhr: Etliche Diagnosen kommen infrage. Warum schließlich der Internist ins Spiel kommt, lest ihr hier.
Es ist Freitag, 16 Uhr, und eure Schicht in der Notaufnahme ist fast vorbei. „In Zimmer 3 sitzt einer, der kann nichts mehr sehen “, sagt der Pfleger. Ein ungutes Gefühl breitet sich in euch aus. Eine akute Sehminderung kann diverse Diagnosen bedeuten – mit verschiedenen therapeutischen Ansätzen. Katarakt? Glaukom? Ihr eilt in Zimmer 3, und seht dort einen jungen Mann vor euch sitzen.
Bei dem Patienten handelt es sich um einen 19-Jährigen, der außer einer behandelten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) keine wesentlichen Vorerkrankungen hat. Die Sehminderung (Snellen-Tafel: 20/400 im rechten, 20/500 im linken Auge) sei vor einer Woche aufgetreten und habe sich zunehmend verschlechtert. Vorher habe der Patient einen selbstlimitierenden Infekt der oberen Atemwege und Durchfall gehabt. Andere Symptome wie Kopfschmerzen oder ein Trauma werden verneint.
Zunächst muss das Auge gründlich inspiziert werden. Bei einigen von euch war die letzte selbst durchgeführte ophthalmologische Untersuchung vielleicht im Rahmen der OSCE. Wer sein Wissen dennoch auf die Probe stellen möchte – und für alle nun hibbelig gewordenen Augenärzte – folgt der Befund:
Vorderkammern: keine Zellen, gut erweiterte Iris und eine klare Linse.
Hintere Abschnitte: keine Glaskörpertrübungen, hyperämische und erhöhte Papillen, Makulaödeme und große seröse Netzhautablösungen mit tiefen, cremigen Läsionen im gesamten hinteren Pol. Keine Netzhautrisse.
Die folgenden Bilder zeigen Aufnahmen des Augenfundus sowie den B-Scan der optischen Kohärenztomographie (OCT) des Patienten:
Fundusaufnahmen ohne Rötung, die große seröse Ablösungen und tiefe subretinale Läsionen (Pfeilspitzen) zeigen,mit B-Scan der optischen Kohärenztomographie, der die Ablösung bestätigt. A, rechtes Auge. B, linkes Auge.Credit: Bhatter el al.
Der B-Scan-Ultraschall bestätigt den Verdacht der beidseitigen Netzhautablösung. Die Aderhaut ist nicht davon betroffen. Im Raum steht der Verdacht auf das Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom, das eine beidseitige, chronische granulomatöse Uveitis beschreibt. Die Diagnose wird jedoch verworfen – ein Glück für den Patienten, wie sich später herausstellt.
Die komplette körperliche Untersuchung liefert zwei stutzig-machende Ergebnisse: Ein Blutdruck von 178/104 und ein Kreatininwert von 19,12 mg/dl werden als Anlass genommen, den Patienten aufzunehmen. Durch eine Blutdruckeinstellung kann die subretinale Flüssigkeitsansammlung und seröse Ablösung vermindert werden. Das hilft bei der Diagnosestellung: Es handelt sich um eine bilaterale hypertensive Chorioretinopathie.
Der Zungenbrecher hat Gemeinsamkeiten mit der hypertensiven Retinopathie mit einigen Extras. Durch Schädigung kleiner Aderhautgefäße kommt es zu Durchblutungsstörungen, die das Pigmentepithel der Netzhaut schädigen. Typische Zeichen sind Elschnig-Flecken (gelbliche Läsionen mit späterer Pigmentveränderung) und Siegrist-Streifen (dunkle Linien entlang der Aderhautarterien). Häufig entsteht ein Makulaödem, bei stark erhöhtem Blutdruck kann es auch zu Netzhaut- oder Pigmentepithelablösungen kommen. Die Erkrankung wird häufiger bei jungen Patienten, wie in diesem Fall, beobachtet, kann aber durch Blutdrucksenkung behandelt werden.
Der Blutdruck wird im Rahmen des Aufenthalts auf unter 140 systolisch gebracht, wodurch das Sehvermögen des Patienten deutlich verbessert und die Netzhautablösung rückgängig gemacht wurde. Neben der medikamentösen Blutdrucksenkung wird der Patient auch nephrologisch untersucht. Das Ergebnis der Nierenbiopsie: eine schwere tubulointerstitielle Fibrose und eine thrombotische Mikroangiopathie unbekannter Ätiologie. Inwieweit das mit dem erhöhten Blutdruck zusammenhängt, ist unklar. Der Patient wird fortan für einige Wochen hämodialysiert.
Ein weiteres Osterei für diesen Fall: Der Verdacht auf das Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom stand im Raum. Doch bei genauer Betrachtung des OCT fällt auf, dass Entzündungszeichen und charakteristische Merkmale fehlen. Wäre der Verdacht geblieben, hätte man den Patienten mit Glukokortikoiden behandelt und dadurch vermutlich eine Blutdrucksteigerung provoziert. Was lernen wir also daraus? Augen auf bei der Diagnosestellung!
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