„Und dann hätte ich gerne noch ein großes Blutbild“ – manche Patienten bestellen Labordiagnostik wie Pommes zum Mitnehmen. Dass das sogar rechtliche Konsequenzen haben könnte, bedenken die Wenigsten.
Neulich in meiner Sprechstunde:
Mutter: „Ich will dann noch eine Blutabnahme bei meinem Sohn.“Ich: „Warum denn genau?“Mutter: „Wir hatten noch nie eine Blutabnahme.“Ich: „Ok. Meine Kinder hatten auch noch nie eine Blutabnahme.“Mutter: „Aber das sollte man doch ab und zu mal machen.“Ich: „Eigentlich nicht. Eine Blutabnahme tut Kindern weh und wir machen das nur, wenn wir einen Verdacht auf eine Erkrankung haben.“Mutter: „Aber er ist immer so müde. Er macht auch immer noch Mittagsschlaf.“Ich: „Aber er macht doch einen ganz aktiven Eindruck.“Mutter: „Ja, jetzt grade. Aber wenn er krank ist, dann ist er ganz müde.“Ich: „Ist das denn so ungewöhnlich? Kinder holen sich beim Kranksein oft Erholungsphasen, in denen sie viel schlafen.“Mutter: „Ich will trotzdem eine Blutabnahme.“Ich: „Was sollen wir denn genau untersuchen?“Mutter: „Das weiß ich nicht, Sie sind doch der Arzt. Ein großes Blutbild oder so.“Ich: „Richtig. Als Ärzte entscheiden wir, wann eine Blutabnahme nötig ist oder nicht.“Mutter: „Vielleicht ist es auch die Schilddrüse?“Ich: „Das ist bei Kindern aber wirklich etwas sehr Seltenes. Und Ihr Sohn zeigt auch keinerlei Symptome für ein Schilddrüsenproblem.“Mutter: „Aber bei der Tochter meiner Schwester deren Freundin kam auch eine Überfunktion raus.“Ich: „Wie alt ist denn die … Freundin?“Mutter: „Siebenundzwanzig.“Ich: „Eben.“Mutter: „Aber man weiß ja nie.“Ich: „Ja, das ist richtig. In der Medizin folgen wir aber Symptomen und Beschwerden und leiten dann diagnostische Schritte ein. Sie müssen medizinisch sinnvoll und zielgerichtet sein, eine Suche ‚auf gut Glück‘ macht keinen Sinn.“Mutter: „Aha.“
Zwei Wochen später kam sie mit einem Laborzettel, den ihr Hausarzt „mal geschwind“ abgenommen hatte, ich solle die Werte nun interpretieren (Spoiler: Es war alles in Ordnung). Ich habe an den Hausarzt zurückverwiesen.
Zur Erklärung: Blutabnahmen sind faktische Körperverletzung am Kind. Sie einfach mal so als Schrotschuss ins Laborverzeichnis durchzuführen, belastet ausschließlich die Solidargemeinschaft der Krankenkassen und ist medizinisch-logisch absolut unsinnig.
Mir ist bewusst, dass Kollegen das anders sehen, und dass es so manche Länder gibt, in denen – auch bei Kindern – einmal im Jahr eine Blutuntersuchung stattfindet. Meist auf private Kosten. Das wird Patienten so empfohlen, folge dem Geld. Profitieren tut daran nur das Medizinsystem, allen voran die Labormedizin.
Das ominöse „große Blutbild“, wie wir Ärzte es verstehen, ist die Untersuchung auf alle Reihen der korpuskulären Bestandteile des Blutes, also weiße und rote Blutkörperchen und -plättchen und deren Vorformen und Differenzierungen. Laien verstehen darunter „einmal mit alles und scharf“, also Leber- und Nierenwerte, natürlich die immer verantwortliche Schilddrüse und whatever mehr.
In der Klinik galt in meiner Ausbildung die Devise: Wer bestellt, erklärt. Nichts war verpönter auf Station als das Ankreuzen des Laborzettels „von oben nach unten“. Wir haben gelernt, Anamnese und Symptome zu Verdachtsdiagnosen zu formulieren, die dann mittels gezielter Laboruntersuchungen bestätigt oder ausgeschlossen werden. Das schärft das Einschätzen der vorliegenden Beschwerden des kleinen Patienten. Eine Laboruntersuchung ist nicht die Krankheit. Auch die Therapie des Labors oder das immerwährende Kontrollieren von auffälligen Werten bis zur Normalität war eine Unmöglichkeit. Ich habe durch diese Prinzipien viel Blick- und Denkdiagnostik gelernt und vor allem: einigen Kids das leidige Anstechen erspart.
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