Was haben eine Avocado, ein offener Torso und Liebesbekundungen miteinander zu tun? Sie alle helfen mir an diesem Tag, gesund im Kopf zu bleiben. Wie es dazu kam und warum ich jetzt weiß, was Wallah bedeutet.
Ab und zu dürfen Gefangene bei mir telefonieren. Eigentlich ist das nicht meine Aufgabe. Untersuchungshäftlinge dürfen so gut wie gar nicht telefonieren – Verdunklungsgefahr. Das Verfahren muss ja sichergestellt werden. Und wenn der Gefangene mit seiner Frau telefoniert und fragt, ob es den Kindern gut geht und ob Lieschen immer noch Schnupfen hat, kann das theoretisch ein Code sein und in Wahrheit bedeuten: „Lass die Drogen aus dem Keller verschwinden und sag Ali, er soll sich ins Ausland absetzen.“
Gefangene in Strafhaft, Abschiebehaft und Ersatzfreiheitsstrafen dürfen telefonieren. Grundsätzlich. Tatsächlich muss sich jedoch jemand in persona finden, der Zeit und Lust hat, das Telefonat durchzuführen. Der Grund ist, dass es in Bayern noch immer keine festen Telefone für die Gefangenen gibt, wie beispielsweise in Berlin seit vielen Jahren. Weil dies mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung nicht vereinbar ist. Also in Bayern. Nein, Moment! Das war das alte Argument. Das neue ist … soweit ich weiß … es ist technisch … schwierig? Irgendwelche Kabel sind nicht lieferbar? Ich muss gestehen, ich bin dem Thema irgendwann nicht mehr gefolgt. Status quo muss sich irgendjemand persönlich mit dem Gefangenen in einen Raum setzen und das Telefonat durchführen. In manchen Fällen der Sozialdienst, in anderen der AVD und in Ausnahmefällen auch der Psychologe.
So heute ich. Ein junger Iraner, in Frankfurt aufgewachsen, muss seine Strafe in Bayern absitzen. Wir umkreisen das Problem zunächst, denn natürlich hat er angegeben, dass er dringend „reden“ möchte. Er mache sich so viele Sorgen, seine Frau wisse nicht, wo er sei, schon drei Wochen sei er jetzt in Haft, sie sei auch krank und dann sei da noch das gemeinsame Kind, ein Mädchen. Und er habe bis jetzt noch nicht daheim anrufen können, weil niemand Zeit gehabt habe, das Telefonat durchzuführen. Ich unterbreche ihn: „Kürzen wir das doch ab: Was Sie brauchen, ist eigentlich kein Gespräch mit mir, sondern ein Gespräch mit Ihrer Frau. Haben Sie die Telefonnummer da?“
„Wallah, ja! Echt jetzt?! Ich danke Sie, Mann!“ Er hat tatsächlich die Nummer, ist höflich und hat Leidensdruck. Warum also nicht.
Er wählt, sie geht ran.
„SCHATZ?! … Schatz … Ich bin’s, Schatz … Jamann, ich bin’s, Schatz!“
Ich wende mich meiner Stellungnahme zu und versuche, die Zeit produktiv zu nutzen. „Eyschatzwallah! Ich hab so Ding Wallah, ich hab so gekämpft hier für Telefonat.“ Na ja, er hatte halt Glück, dass ich gerade Zeit hatte. Und ehrlich gesagt in dem Moment ganz froh war, dass ich kein Gespräch führen musste. Manchmal ist das nämlich auch ganz schön anstrengend. Ich schreibe weiter an meiner Stellungnahme. Versuche, nicht zuzuhören.
„Wallah, ich wein grad so, frag mal die Psychologin. Ich küss Ihr Herz!“ Iraner küssen immer Herzen, wenn sie sich bedanken wollen. Nett. „Wallah, wenn die mich nicht telefonieren lassen hätte, Wallah, möge Allah ihr nur Bestes geben – ich küss ihr Herz.“ Der durchschnittliche Deutsche stellt sich bei dieser Redewendung einen offenen Brustkorb vor. OP am schlagenden Herzen. Jemand beugt sich über den Patienten und will das blutige Organ küssen. Alles unsteril. Der Operateur flippt aus … .
„Ey, von meiner Frau – die küsst auch Ihr Herz!“ Ich lächle, nicke. Stellungnahme.
„Wallah, deine Stimme in mein Ohr is Medizin, ich vermiss dein Geruch und deine Hand.“ Die Freundin erklärt, warum sie so oft krank war. Es kamen irgendwelche Untersuchungsergebnisse.
„Morbus Crohn, Mann! Das is Scheiße! Was is Morbus Crohn? Wallah, Darmkrankheit? Das is Scheiße!“ Ja. Ist es.
„Schatz, du darfst nix mehr machen, gaaar nix. Nicht ein Joint, kein Shisha, gar nix. Du musst sauber bleiben, alles! Besorg dir Avocado, Ingwer, Zitrone, Wallah, und mach Sport und bete! Ich geh für dich in den Tod, Wallah.“ Er weint. Man ist im Iran immer etwas theatralisch bei den Liebesschwüren.
Habe ich jetzt den Satz in meiner Stellungnahme mit „Wallah“ beendet? Ich beantworte ein paar E-Mails, denn offensichtlich kann ich mich gerade schlecht konzentrieren.
Jetzt kommt die Rede auf seinen Vater: „… dis sagt der Papa? Hat der gefragt, wo ich bin?“ Das Weinen verändert sich. Regressives, kindliches Schluchzen. Puuuh … das scheint ein Thema zu sein.
„Shallah, Shallah, Inshallah, dein Stimme is Medizin.“ Romantisch.
„Schatz, wir sind ja muslimisch verheiratet, aber dings sind wir nicht verheiratet. Du musst also immer sagen, dass du meine Verlobtin bist, weil sonst sagen die ,Wos isn dees hier? Des is doch ned Ihr Frau!‘ Okay?“ Ich bin verstört, denn die Imitation eines bayerischen Beamten war nahezu perfekt. Ich unterliege immer dem Irrtum, zu glauben, die Menschen sprechen diesen Soziolekt, weil ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen. Aber sie wählen diese Art, zu sprechen bewusst. Das hat was mit Identität zu tun.
„Und bete.“ Ah, Themenwechsel.
„Mach nix, kein Joint, keine Zigarette, nix. Mach Ingwer und Avocado. Und bete!“ Nicht der schlechteste Ratschlag. Mit Ingwer, Avocado und Beten ist noch niemand zu Schaden gekommen.
Zwischendurch fragt er mich, ob er noch zwei Minuten weiter telefonieren darf. Ich mühe mich nebenher an meinem Papierkram ab und bin wie gesagt ein bisschen froh, dass ich gerade kein Gespräch führen muss. „Ja, klar. Machen Sie halt noch bis viertel nach und dann Schluss.“ Die nächsten drei Minuten bestehen wieder aus „Wallah“, „Ich danke Sie“ und „Ich küss Ihr Herz!“ Auch die Verlobtin küsst inzwischen wieder mein Herz.
Ich google nebenher was „Wallah“ bedeutet. Laut Wikipedia kommt der Begriff „Wallah“ ursprünglich aus dem Arabischen. Dort ist er eine Kurzform von „Wahayat Allah“, was übersetzt „beim lebendigen Gott“ bedeutet.
Ich ertappe mich, wie ich die beiden ein bisschen belächle. Aber das meine ich gar nicht herablassend. Das Kind ist nicht von ihm, habe ich erfahren. Trotzdem bleibt er und sorgt für die beiden, obwohl sie (mehr oder wenig) streng muslimisch unterwegs sind. Er sitzt im Knast. Nicht das erste Mal. Und trotzdem bleibt sie. Der Weg, den die beiden gemeinsam hinter sich haben, ist mehr als holprig und wahrscheinlich wird das nicht halten. Und wenn es hält, wird es viel Streit geben. Die Tochter wird darunter leiden und irgendeinem meiner Kollegen draußen viel Nervenstärke abverlangen, wenn sie in der Therapie sitzt und von ihrem kriminellen Vater und der drogenabhängigen Mutter berichtet.
Aber die Zwei lieben sich verzweifelt und irgendwie wünsche ich ihnen, dass sie es schaffen. Weil, irgendwas muss man sich ja wünschen. Und perfekt is eh nix.
Es ist viertel nach. Nach drei Minuten „Leg auf, Schatz, Wallah, wir müssen auflegen“, und „Ich küss der Psychologin sein Herz!“ ist das Gespräch dann auch vorbei. Der junge Mann weint, also müssen wir noch kurz warten, bis er die Tränen getrocknet, seine Mimik wieder im Griff und sein Kampfgesicht zurückerobert hat, bevor wir zu den anderen Gefangenen auf den Gang treten.
Die Stellungnahme muss ich wohl noch einmal aufmerksam überarbeiten, die ist irgendwie komisch geworden.
Telefonate durchzuführen, ist nicht mein Job. Man braucht dafür kein Psychologiestudium, es ist im Grunde Ressourcenverschwendung. Aber ich habe in den letzten 30 Minuten so viel lächeln müssen, wie den ganzen Tag nicht. Ich weiß jetzt, was „Wallah“ bedeutet und kann nicht ausschließen, dass Avocado, Ingwer und Zitrone der Schlüssel zu einem besseren Leben sind.
Manche Aufgaben übernimmt man hier drinnen auch, um selbst gesund im Kopf zu bleiben. Und das ist genau richtig so!
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