Ein 19-Jähriger erleidet einen Herzinfarkt, obwohl er nicht weiter vom typischen Bild des Herzinfarktpatienten entfernt sein könnte. Lest hier von der Diagnose-Odyssee.
In vielen Fällen ruft das äußere Erscheinungsbild eines Patienten im Kopf eines Arztes direkt eine Liste mit Differenzialdiagnosen hervor. Die Erkrankung passt dann zum Patienten wie die Faust aufs Auge. Über die COPD bei der langjährigen Kettenraucherin mit den gelben Fingerspitzen wundert man sich ebenso wenig, wie über die Fettleber beim übergewichtigen LKW-Fahrer. Dabei besteht die größte Herausforderung vor allem darin, sich nicht von Vorurteilen leiten zu lassen.
Manchmal ist es aber auch ganz anders. Da wollen Patient und Diagnose einfach nicht zusammenpassen. Sie sind zwar seltener, aber es gibt sie: Fälle, die einfach nicht in das innere Schubladensystem passen. So ähnlich wird es dem Behandlungsteam im vorliegenden Fall gegangen sein. 19 Jahre, keine Vorerkrankungen, blande Familienanamnese – und dann ein Myokardinfarkt. Wie passt das zusammen?
Der junge Mann wird in die Notaufnahme gebracht, nachdem er über minutenlangen, stärksten Thoraxschmerz geklagt hatte und kollabiert war. Bei Ankunft in der Klinik ist der Bewusstseinszustand nach wie vor reduziert. Das angefertigte EKG bringt eine ventrikuläre Tachykardie zum Vorschein. Die Ärzte kardiovertieren und verabreichen dem Patienten Lidocain, dann fertigen sie ein weiteres EKG an. In diesem sehen sie anterolaterale ST-Hebungen. Die Vitalzeichen sind nun stabil, der junge Mann klagt aber weiterhin über starke thorakale Schmerzen.
Im Labor sind Troponin I, CK-MB, LDH, Laktat und D-Dimere erhöht (s. Tabelle). Zudem zeigt sich eine Leukozytose mit über 90 % Neutrophilen. Thrombozytenzahl, Fibrinogen, Blutzucker und ein Toxscreen sind unauffällig.
Tabelle 1: ausgewählte Laborwerte des Patienten
Die Ärzte führen eine Echokardiographie durch, in der die linksventrikuläre systolische Funktion uneingeschränkt ist. Die Ejektionsfraktion ist mit 60 % ebenfalls normal. Thromben, Klappenvitien oder einen Perikarderguss können die Untersucher nicht nachweisen.
Der junge Patient erhält eine Loading-Dose ASS und Clopidogrel, sowie eine therapeutische Antikoagulation und Amiodaron.
Es folgte eine Herzkatheteruntersuchung mit überraschend deutlichem Befund: Der distale Hauptstamm der linken Koronararterie ist zu 70 % stenosiert, der Ramus interventricularis anterior (RIVA, englisch LAD) sogar zu 99 %. Dazu kommt eine 90%ige Stenose des proximalen Ramus circumflexus (RCX).
Koronarangiographie mit 70%iger distaler Hauptsammstenose (gelber Pfeil), 99%iger RIVA-Stenose (roter Pfeil) und 90%iger RCX-Stenose (blauer Pfeil). Credit: Alhroub et al. Aufgrund der Schwere und Komplexität des Befunds erfolgt die Revaskularisierung mithilfe von zwei koronaren Bypässen. Die offene Operation mit medianer Sternotomie läuft komplikationslos. 5 Tage nach der Operation ist die linksventrikuläre Ejektionsfraktion mit 55 % weiterhin verhältnismäßig gut. Echokardiographisch zeigt sich eine anteriore und septale Hypokinesie bei posteriorer und lateraler Hyperkinesie.
Eine Woche später wird der Patient in stabilem Zustand nach Hause entlassen. Auch vier Monate nach dem Vorfall geht es ihm gut.
Der geschilderte Fall stellte die behandelnden Ärzte vor ein Rätsel. Was war die Ursache für diese schwere Erkrankung bei einem so jungen Patienten?
Die Autoren berichten von einer allgemein steigenden Prävalenz von kardiovaskulären Erkrankungen bei jungen Patienten. Allerdings geht dieser Anstieg üblicherweise auch mit vermehrten klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren in dieser Altersgruppe einher. Immer mehr junge Erwachsene leiden z. B. unter Hypertonie, Hyperlipidämie und Diabetes. In über 80 % der Fälle haben junge Menschen mit KHK mindestens einen dieser beeinflussbaren Risikofaktoren. Daneben spielt aber vor allem auch die genetische Prädisposition eine wichtige Rolle.
Im Gegensatz zu älteren Patienten führt in dieser Gruppe nur selten eine Plaqueruptur zur Unterbrechung des Blutflusses. Typischer sind andere Mechanismen, wie Embolien, Gefäßspasmen, Dissektionen oder anlagebedingte Fehlbildungen der Koronararterien. Auch ein Antiphospholipidsyndrom, gefäßkomprimierende Myokardbrücken oder eine allgemeine Hyperkoagulabilität können im jungen Alter ein akutes Koronarsyndrom verursachen.
Es gibt also eine Menge möglicher Ursachen, die allerdings – bis auf eine milde Hyperlipidämie – alle nicht auf den Patienten zutrafen. Also begann eine umfangreiche Diagnostik auf der Suche nach dem Auslöser.
Aufgrund der offensichtlich fehlenden Risikofaktoren hielten die Ärzte eine genetische Ursache für am wahrscheinlichsten und veranlassten eine vollständige Exomsequenzierung. Dabei schauten sie besonders nach metabolischen Störungen und familiären Lipidstörungen – fanden aber keine Auffälligkeiten. Weiterhin wurden entzündliche und chronisch-infektiöse Ursachen wie Vaskulitiden, systemischer Lupus erythematodes, Kawasaki-Syndrom oder eine HIV-Infektion ausgeschlossen. Auch in der Gerinnungsdiagnostik wurden keine Auffälligkeiten gefunden: kein Antiphospholipid-Syndrom, kein Mangel an Protein C oder Protein S.
Und toxikologische Ursachen? Auch hierfür fand sich kein Anhalt. Weder anamnestisch noch im durchgeführten Drogenscreening.
Eine weitere denkbare Möglichkeit wäre eine angeborene Verengung der Koronararterien. Aber auch hier: Fehlanzeige. In einer Koronarangiographie und einer CT-Angiographie fanden die Untersucher keinen Hinweis darauf.So unbefriedigend es ist: Es ließ sich partout keine greifbare Ursache finden.
Auch wenn der Aufwand hoch war und am Ende kein klares Ergebnis steht, war es dennoch wichtig und richtig, den langen Weg der systematischen Ursachensuche zu gehen – gerade bei einem 19-Jährigen. Immerhin konnten viele potenziell schwerwiegende Erkrankungen ausgeschlossen werden.
Was sich aber aus dem Fall vor allem lernen lässt, ist, sich nicht vom äußeren Erscheinungsbild eines Patienten leiten zu lassen. Auch ein 19-Jähriger kann einen Herzinfarkt haben. Fälle wie dieser sind ein kleiner Weckruf, den es ab und zu braucht, um es sich im hektischen Klinikalltag in der gewonnenen Routine und Erfahrung nicht allzu bequem zu machen.
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