Ein halbes Jahr körperliches Training soll die erektile Funktion von Prostatakrebs-Patienten verbessern. Eine steife These, die bei näherem Hinsehen kläglich schrumpft.
Operation und Bestrahlung sind beim Prostatakarzinom die Therapien der Wahl. Schon für das lokal begrenzte, nicht metastasierte Stadium rät die aktuelle S3-Leitlinie allen Männern zur radikalen Prostatektomie und Radiotherapie. Der Haken dabei: Häufig ist Impotenz die Folge. Viele Patienten im besten Mannesalter fürchten also um ihr gewohntes Sexleben, wenn sie sich operieren und bestrahlen lassen.
Da verheißt eine Studie australischer Wissenschaftler einen mannhaften Ausweg aus der Misere: „Basierend auf den Ergebnissen unserer Studie sollte körperliches Training als ein integraler Teil der Behandlung angesehen werden, um die sexuelle Funktion bei Männern mit Prostatakrebs zu verbessern“, schreiben die Autoren. Die Arbeit ist hochrangig publiziert, und zwar im Journal of the American Medical Association Network Open Urology, einem Peer-reviewed Open Access Online Journal unter dem Dach der JAMA-Familie. Laut eigenen Angaben belegen die JAMA Network Open Journals mit einem Impact Factor von 10,5 den dritten Rang unter den medizinischen Open Access Organen.
Für ihre Untersuchung rekrutierten die Wissenschaftler 112 Männer mit Prostatakrebs, die während der Studie behandelt wurden oder die im Jahr zuvor behandelt worden waren. Im Schnitt waren die Männer 66 Jahre alt. Die Probanden wurden per Zufall in drei Gruppen eingeteilt: Die Training-Gruppe übte unter Anleitung ein halbes Jahr lang dreimal wöchentlich Ausdauer und Kraft. Die Training-plus-Psycho-Gruppe erhielt zusätzliche Aufklärung zum Stressmanagement, zum Umgang mit den Auswirkungen der Therapie und zu den Zielen ihrer Sexualität. Die Kontrollgruppe bekam eine nicht näher definierte „übliche Behandlung“.
Primär interessierte die Forscher das Sexleben der Probanden. Sie bewerteten es mit Hilfe dreier verschiedener Scores mit insgesamt sieben Parametern: IIEF-15 („Index of Erectile Function“) lässt Aussagen zu den Parametern erektile Funktion, Orgasmus, Lust, sexuelle Befriedigung und Gesamtbefriedigung zu, EPIC beschreibt die sexuelle Funktion und EORTC QLQ-PR25 die sexuelle Aktivität. Das Ergebnis: Verglichen mit der Kontrollgruppe verbessert sich im IIEF-Score die erektile Funktion mit Training signifikant. Die zusätzliche psychologische Betreuung hatte dagegen keinen signifikanten Effekt. So steht es im Abstract, in der Diskussion und im Fazit. Daraus leiten die Autoren ihre Empfehlung zum Training für Prostatakrebs-Patienten ab. Alles gut also?
Mitnichten. Macht man sich die Mühe, das Paper ausführlich zu lesen, ergeben sich so viele Ungereimtheiten, dass man am Ende erschüttert ist – ob der Dreistigkeit der Autoren und der offenbar fehlenden Qualitätskontrolle des Journals. Um es auf den Punkt zu bringen: Lässt man die heiße Luft aus diesem Ballon, bleibt nur eine schrumpelige Hülle zurück.
Im Ergebnisteil wird nur der IIEF-Parameter erektile Funktion („erectile function“) mit einem p-Wert von 0,04 als signifikant eingestuft. Der zweitbeste Parameter Befriedigung beim Geschlechtsverkehr („intercourse satisfaction“) wird mit seinem p-Wert 0,05 explizit als nicht signifikant bezeichnet. In der Diskussion heißt es dann aber, dass auch er verbessert werde. Was denn nun? Zwar sollte der p-Wert generell mehr als Orientierungshilfe denn als Urteil über wahr und unwahr angesehen werden, aber mal so und mal so zu argumentieren, ist zumindest erklärungsbedürftig.
Die Stärke des Trainingseffekts auf die erektile Funktion wird in dem Paper mit drei verschiedenen Werten angegeben. In den Trainingsgruppen verbessert sich der Wert auf einer Skala von 1 bis 30 von durchschnittlich 4,8 auf 9,9, also um 5,1 Punkte. In der Kontrollgruppe steigt er von 6,6 auf 7,6, also um 1 Punkt. Zieht man die beiden voneinander ab, kommt der Wert von 4,1 heraus. In der Tabelle mit den Ergebnissen steht auch noch der adjustierte Wert von 3,5.
Alle drei Werte sind ein wenig erratisch in das Paper eingestreut. So heißt es etwa in der Diskussion: „In der vorliegenden Studie verbessert Training die erektile Funktion (durchschnittlich 5,1 Punkte), und weist so auf eine mögliche klinisch relevante Verbesserung hin (minimaler klinisch relevanter Unterschied 4,0 Punkte).“ Das heißt: Hätten die Autoren an dieser Stelle die 3,5 Punkte aus der Ergebnistabelle genannt, hätten sie zugeben müssen, dass ihr einziger signifikanter Messwert klinisch nicht von Belang ist.
Die gravierendste Ungereimtheit in der Arbeit besteht darin, dass die Ergebnisse der Training-Gruppe und der Training-plus-Psycho-Gruppe durchgehend in einer Training-Gesamtgruppe zusammengefasst werden. Nirgends kann man die Rohdaten der beiden Einzelgruppen nachlesen, auch in den Supplements nicht. Es heißt nur lapidar, dass die psychologische Betreuung einen nicht signifikanten Zusatzeffekt hatte – an einer Stelle werden 1,1 Punkte für den Parameter erektile Funktion genannt. Warum die Autoren die Gruppen zusammenlegen, bleibt ihr Geheimnis.
Ganz so geheimnisvoll ist das Zusammenlegen letztlich aber nicht. Einen Hinweis auf einen handfesten Grund kann man aus dem Absatz „Stärken und Limitierungen“ im Kapitel Diskussion herauslesen: Die Rekrutierung der Probanden, heißt es dort, habe unglücklicherweise frühzeitig abgebrochen werden müssen, weshalb die Studie „wahrscheinlich nicht ausreichend gepowert“ sei. Und was kann man tun, wenn man in den einzelnen Gruppen zu wenige Probanden hat? Richtig, man legt zwei Gruppen zusammen. So bläst man zwei Einzelgruppen mit 39 und 36 Probanden mal eben auf eine Gesamtgruppe mit 75 Probanden auf. Hinzu kommt, dass die Training-plus-Psycho-Gruppe eben doch etwas besser abgeschnitten hat als die nur Training-Gruppe. Der Unterschied ist zwar nicht signifikant, aber er trägt am Ende dazu bei, das Ergebnis der Gesamtgruppe aufzupimpen, und so den p-Wert gerade eben über die Signifkanzschwelle von 0,05 zu hieven.
Wie wichtig die Gruppengröße für die Signifikanzberechnung ist, lässt sich an Zahlen im Supplement unmittelbar ablesen. Dort teilen die Autoren die Probanden der beiden Trainingsgruppen je nach der Art der Behandlung – Prostatektomie, Bestrahlung oder Hormone – in drei Untergruppen ein. Und schwupps verflüchtigt sich die einzige Signifikanz des Trainingseffekts.
Wie ein vernünftiger p-Wert aussieht, demonstrieren dann die sekundären Endpunkte. Dort verbessern sich einige Parameter deutlich, teils mit p-Werten unter 0,001: Während sich die Kontrollgruppe in einem halben Jahr im Schnitt ein Kilogramm Fett auf die Rippen packte, hielt die Training-Gesamtgruppe ihr Gewicht. Auch bei der „Chair rise performance“ sowie der Kraft in Armen und Beinen schnitten sie besser ab. Zu dumm nur, dass das Ergebnis, mit körperlichem Training die körperliche Fitness zu erhöhen, so banal ist, dass damit kein Blumentopf zu gewinnen wäre.
Fragt man sich nun, warum um alles in der Welt die Autoren ihre Studie so malträtiert haben, dass sie wenigstens einen Hauch von Signifikanz herauspressen konnten, findet man eine Antwort darauf womöglich im Autorenverzeichnis: 11 der 14 Autoren der Studie arbeiten nämlich am Exercise Medicine Research Institute der Edith Cowan University in Perth. Auf seiner Webseite beschreibt sich das Institut als „Pionier im Verschreiben von Training zum Management chronischer Krankheiten“. Seine Vision: „Leben mit Trainingsmedizin verändern.“
Nach diesem langen und unerquicklichen Exkurs in die Untiefen gequälter Studien sowie der Erkenntnis, dass es mit dem Sexboost durch körperliches Training doch nicht so weit her ist, wie von den australischen Forschern behauptet, finden betroffene Männer Trost in der deutschen Leitlinie zum Prostatakarzinom. Die relativiert schon das Problem der Impotenz an sich, schließlich habe es in der jüngeren Vergangenheit zwei bedeutende medizinische Errungenschaften gegeben: die nervenschonende OP-Technik, dank der nicht mehr 100 %, sondern 19 bis 40 % aller operierten Männer Erektionsprobleme bekommen, und die PDE-5-Hemmer gegen erektile Dysfunktion. Dank OP und Pillen könnten 90 % aller operierten Männer den gewohnten Geschlechtsakt vollziehen.
Deshalb empfiehlt die Leitlinie, dass Männern mit Erektionsbedarf PDE-5-Hemmer verschrieben werden sollten. Erst wenn die nicht zum Erfolg führen, können andere Hilfen erwogen werden, zum Beispiel körperliches Training. Dem hat auch die neue Studie aus Australien nichts hinzuzufügen.
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