In Deutschland wird die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Polymedikation auf 16.000 bis 25.000 pro Jahr geschätzt. Zum Vergleich: Im Jahr 2016 starben etwa 3.400 Menschen im Straßenverkehr. Eine Suche nach Ursachen und Lösungen.
Sieht man sich die zahlreichen, zum Teil tödlich endenden, Komplikationen an, die durch Polymedikation entstehen, drängt sich die Frage auf: Wer ist Schuld? Der Arzt, weil er zu leichtsinnig den Rezeptblock zückt? Der Apotheker, weil er nicht zwischen Arzt und Patient vermittelt? Der Patient, weil er gern Mediziner-Hopping betreibt? Oder die Leitlinien, weil sie zwangsläufig zur Polypharmazie führen müssen? Auf dem Weg des Arzneimittels durch den Körper ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten der Arzneimittelwechselwirkung. Bei der Resorption, der Verteilung, der Umwandlung, der Ausscheidung und bei der Wirkung können Arzneistoffe durch andere Reaktionspartner beeinflusst werden. Mit Hilfe einer einfachen Formel lässt sich die Anzahl der maximal zu erwartenden Interaktionen berechnen:
I = (n2-n)/2
I steht dabei für die Anzahl möglicher Interaktionen, n für die Anzahl der eingenommenen Medikamente. Bei sechs verschiedenen Medikamenten kann es so bis zu 15 mögliche Interaktionen geben ((6 x 6 – 6) : 2 = 15 ), bei 10 Medikamenten bis zu 45!
In einer Studie von Hoffmann et al. nahmen etwa 70 % der Heimbewohner fünf oder mehr Wirkstoffe pro Tag ein. Die Querschnittsstudie ergab, dass 63,6 % der Bewohner eine Niereninsuffizienz aufwiesen. Die 685 Bewohner erhielten insgesamt 4.316 Arzneimittel als Dauermedikation. Davon sind potenziell 2.184 bei eingeschränkter Nierenfunktion kontraindiziert beziehungsweise in der Dosierung anzupassen wären (50,6 %). Am häufigsten betraf dies die Wirkstoffe Ramipril, Simvastatin und Torasemid. Besonders häufig überdosiert waren Metformin, Ramipril sowie Kaliumchlorid. Ein zu hoher Spiegel der cholesterinsenkenden Statine kann Myopathien und im schlimmsten Fall eine Rhabdomyolyse, also den Zerfall von Muskelgewebe, auslösen. Diuretika in zu hohen Dosen steigern das Risiko für Gicht und Diabetes und bringen die Elektrolytbalance aus dem Gleichgewicht. Ein zu hoher Kaliumspiegel kann lebensbedrohliche Rhythmusstörungen auslösen. Wenn neben dem Kalium auch noch ACE-Hemmer gegeben werden, steigt das Risiko einer Hyperkaliämie dramatisch an. Laut Hoffmanns Studie erhielten insgesamt 135 Bewohner, also 19,7 Prozent mindestens ein nicht adäquat dosiertes oder kontraindiziertes Arzneimittel bei vorliegender Nierenfunktion.
Polymedikation ist keine Ausnahme, sondern eher fester Bestandteil im Therapiealltag. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Patienten werden immer älter, multimorbider, die Palette der Pharmakotherapie immer größer und Leitlinien immer wichtiger. Wie groß das Problem der Polypharmazie ist, ergab die Untersuchung der Handelskrankenkasse (hkk). Mehr als ein Viertel der Versicherten (26,7 Prozent) nehmen fünf und mehr Medikamente gleichzeitig ein. In Deutschland ist bei 30% der über 65-Jährigen von einer Polypharmazie auszugehen; die Prävalenz steigt mit dem Alter und ist bei Frauen höher als bei Männern. So die Aussage einer Arbeit von Juliane Bolbrinker der Charité Berlin. Novaes et al. bezeichnen das Problem „iatrogene Trias“ – ein vom Arzt verursachter Symptomkomplex aus Polypharmazie, Drug-Drug-Interaktion und potenziell nicht geeigneten Medikamenten. Eine geriatrische Patientin mit fünf Erkrankungen mittlerer Schweregrade wie Osteoarthritis, Osteoporose, Typ-2-Diabetes, Hypertonie und einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) hat sicherlich eine geminderte Lebensqualität, aber bestimmt keine Langeweile. Würde sie streng nach den jeweiligen Leitlinien therapiert werden, nähme sie 12 Medikamente in 19 Einzeldosen zu fünf unterschiedlichen Tageszeiten. Sollten die täglichen Selbstkontrollen von Blutzucker und Lungenfunktion mittels Peak Flow und das Lesen, Verstehen, Behalten und Umsetzen von zahlreichen Ratschlägen noch Zeit lassen, besucht sie regelmäßig Haus- und Facharzt. Sie nimmt an evidenzbasierten Schulungen zu allen ihren Krankheiten teil und ist gern gesehener Gast in Selbsthilfegruppen.
Nach einer Studie von Waltering et al. klafft bei den Medikationsplänen zwischen ärztlichem Anspruch und Realität der Einnahme oft eine große Lücke: Nur jeder 16. Patient hält sich exakt an den ärztlichen Medikationsplan. Zur Studie wurden 500 Patienten herangezogen. Die Adhärenz wurde dabei von jenen 80 Prozent der Patienten untersucht, die einen Medikationsplan hatten. Danach nahmen sie im Schnitt neun verschreibungspflichtige und ein frei verkäufliches Arzneimittel ein. Die Apotheker prüften mit einer „Brown-Bag-Analyse“, welche Medikamente die Patienten tatsächlich eingenommen haben. Die Patienten brachten dazu alle Medikamente in einer Tüte in die Apotheke. Dabei stießen die Pharmazeuten auf insgesamt 2021 Abweichungen von den Medikationsplänen, das sind fünf pro Patient, vor allem bei den verschreibungspflichtigen Mitteln. 41 Prozent der Abweichungen betrafen den Austausch mit einem wirkstoffgleichen Arzneimittel. In 30 Prozent der Fälle nahmen die Patienten ein Mittel, das im Medikationsplan nicht aufgelistet war. 18 Prozent hatten mindestens ein Medikament ohne Wissen des Arztes abgesetzt. Besonders Antihypertonika, Analgetika und Antidepressiva wurden nicht therapietreu eingenommen. "Wenn der Plan älter als drei Monate ist, steigt die Fehlerquote um 50 Prozent“, warnt die Autorin.
Ein Forscherteam um Katharine Wallis vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Auckland, Neuseeland, befragte 24 Hausärzte, ob sie die Therapiepläne regelmäßig überprüfen und auch Medikamente absetzen. Die befragten Ärzte sahen ein, dass ein Absetzen von Medikamenten durchaus sinnvoll und notwendig sein kann, gaben aber auch an, dass dies eine große Hürde sei. Zu groß sei die Angst, den Patienten unterzuversorgen und ein „schlechter Arzt“ zu sein. Bemängelt wurde auch, dass die Leitlinien ein Absetzen einer Medikation in den meisten Fällen gar nicht vorsehen. Die Ärzte gaben an, dass eine große Unsicherheit in der Versorgung multimorbider Patienten bestehe, was beim Mediziner Ängste auslöse. Diese führen dazu, lieber mehr als weniger Medikamente zu verordnen.
Ärzte der Universität Groningen stellten bei älteren Patienten einen Zusammenhang zwischen Depression und Polypharmazie-Risiko fest. Für die Studie wurden Daten von 4.477 Niederländern über 60 Jahren ausgewertet, die sich in primärärztlicher Versorgung befanden. 1.512 Patienten hatten eine diagnostizierte Depression, bei 1.457 war eine andere psychische Erkrankung dokumentiert und 1.508 Kontrollpatienten waren psychisch gesund. Die Wahrscheinlichkeit einer Polypharmazie war bei depressiven Älteren höher als bei Personen mit anderen psychischen Erkrankungen. Sie wurden dreimal häufiger mit mindestens fünf Medikamenten gleichzeitig behandelt verglichen mit Personen der Kontrollgruppe. Besonders problematisch sahen die Ärzte die häufige Verordnung von Wirkstoffen mit anticholinergen und sedierenden Eigenschaften. Dies wurde mithilfe des Drug Burden Index (DBI) erfasst. Zu den Wirkstoffen gehören u.a. sedierende Antihistaminika wie Doxylamin und Wirkstoffe gegen Harninkontinenz. Anticholinergika können die Kognition beeinflussen, wirken sedierend oder können gar ein Delir auslösen.
Nach Daten der Pharmakovigilanz der FDA sind folgende Substanzen besonders häufig in Arzneimittelinteraktionen bei Polypharmazie betroffen, wobei die Häufigkeit von oben nach unten abnimmt:
Die hausärztliche Leitlinie “Multimedikation” hat eine praktikable Übersicht über häufige Interaktionen unter dem Aspekt der Polypharmazie erstellt, die in der Praxis sehr hilfreich ist. Auch die BARMER-Krankenkasse hat den Arzneimittelinteraktionen bei der Polymedikation den Kampf angesagt. Das Projekt AdAM („Anwendung für digital unterstütztes Arzneimitteltherapie- und Versorgungsmanagement“) agiert als Schnitt- und Kontrollstelle. Wenn der Patient zugestimmt hat, erhält der Hausarzt Informationen über sämtliche Verordnungen aller Ärzte, die an der Behandlung beteiligt sind. Außerdem informiert ein Software-Programm den Arzt über Kontraindikationen, Unverträglichkeiten und Wechselwirkungen. Die Idee ist gut, denn nur, wenn die Medikation aller an der Behandlung des Patienten beteiligten Ärzte geprüft wird, können Interaktionen vermieden werden. Eine mögliche Schwachstelle gibt es allerdings. Im Rahmen der Selbstmedikation in der Apotheke erworbene Arzneimittel werden nicht automatisch erfasst.