Nicht nur Menschen mit Migräne und Cluster-Kopfschmerzen haben ein erhöhtes Suizid-Risiko. Auch bei Menschen mit anderen Kopfschmerzformen gibt es höhere Selbstmordraten. Auf was ihr bei euren Patienten achten müsst.
Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Erkrankungen weltweit – und sie können sehr belastend sein. Schätzungen zufolge leiden zwei Drittel der Menschen auf der Welt mindestens einmal im Leben an einer Kopfschmerzstörung. Bereits frühere Studien haben gezeigt, dass bei Patienten mit Kopfschmerzstörungen häufiger suizidale Gedanken und Suizidhandlungen auftreten als bei anderen Menschen. Dabei konzentrierten sich die Studien meist auf Patienten mit Migräne und Cluster-Kopfschmerz und auf Suizidversuche, nicht jedoch auf vollendete Suizide.
Dagegen gibt es bisher wenige Untersuchungen zum Suizidrisiko bei anderen Kopfschmerzarten und wenige Studien, die auch vollendete Suizide einbeziehen. Ein Forscherteam aus Dänemark und den USA hat nun in einer populationsbasierten Studie die Häufigkeit von Suizidversuchen und vollendeten Suiziden bei Menschen mit Kopfschmerzstörungen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe über einen Zeitraum von 15 Jahren untersucht. Dabei stellte sich heraus: Das Risiko für Suizidversuche und vollendete Suizide ist bei allen Kopfschmerzarten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erhöht.
An der Studie waren Forscher um Erstautorin Dr. Holly Elser und Letztautor Prof. Henrik Toft Sorensen beteiligt, die an der Aarhus University in Aarhus (Dänemark), der University of Pennsylvania in Philadelphia (USA) und der Stanford University in Stanford (USA) tätig sind. Die Ergebnisse sind jetzt in der Fachzeitschrift JAMA Neurology erschienen.
Basis der Studie waren Daten aus dem Danish National Patient Registry (DNPR) von 1995 bis 2020. In dem Register werden Daten aller Patienten erfasst, die seit 1977 in dänischen Krankenhäusern behandelt wurden. In Dänemark leben rund 5,6 Millionen Menschen, das Patientenregister enthält die im Lauf der Zeit gesammelten Daten von rund 7,9 Millionen Menschen.
In die Analyse wurden Personen ab 16 Jahren eingeschlossen, bei denen im Zeitraum von 1995 bis 2020 eine Kopfschmerzstörung diagnostiziert worden war. Diese wurden nach Geschlecht und Geburtsjahr mit Menschen ohne die Diagnose Kopfschmerzstörung aus der Allgemeinbevölkerung im Verhältnis 1:5 gematcht. Die Diagnosen waren auf Basis der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases, 10. Revision) gestellt worden. Sie umfassten:
Daten zu versuchten Suiziden erhielten die Forscher aus dem DNPR und dem Danish Psychiatric Central Research Register, Daten zu vollendeten Suiziden aus dem Danish Register of Causes of Death. Bei der Auswertung wurde der Einfluss von Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Einkommen, anderen körperlichen und psychischen Erkrankungen sowie Tod durch andere Ursachen statistisch berücksichtigt.
Bei den körperlichen Erkrankungen wurden berücksichtigt:
Bei den psychischen Erkrankungen wurden berücksichtigt:
Weiterhin wurde auch erfasst, ob die Studienteilnehmer Antidepressiva oder Opioide einnahmen.
Insgesamt konnten 119.486 Patienten mit Kopfschmerzstörung (69,5 Prozent weiblich) in die Studie einbezogen werden. Sie wurden mit 597.430 Kontrollpersonen ohne Kopfschmerzstörung (ebenfalls 69,5 Prozent weiblich) verglichen. Das mittlere Alter der Studienteilnehmer lag bei 40,1 Jahren (Bereich: 29,1 bis 51,6 Jahre). Der Follow-up-Zeitraum lag bei den Patienten im Durchschnitt bei 8,6 Jahren, in der Kontrollgruppe bei 8,9 Jahren.
Die Diagnose verteilten sich dabei wie folgt:
Diagnose
Zahl der Patienten
Anteil Frauen
Migräne
75.403
75,0 %
Spannungskopfschmerz
48.482
69,3 %
posttraumatischer Kopfschmerz
5.730
59,2 %
trigemino-autonome Kopfschmerzerkrankungen
6.872
39,4 %
Bei den Patienten mit Kopfschmerzstörungen wurden 603 Suizidversuche und 156 vollendete Suizide beobachtet. Das absolute Risiko (AR) für versuchten Suizid lag bei ihnen über den 15-Jahres-Zeitraum bei 0,78 Prozent, in der Kontrollgruppe dagegen bei 0,33 Prozent. Bei vollendeten Suiziden betrug das absolute Risiko bei Patienten mit Kopfschmerzstörungen 0,21 Prozent, in der Kontrollgruppe 0,15 Prozent. Damit war das Risiko für Suizidversuche und vollendete Suizide bei Menschen mit Kopfschmerzstörungen signifikant höher als in der Kontrollgruppe. Diese Zusammenhänge waren robust und ließen sich bei allen untersuchten Kopfschmerzformen beobachten. Allerdings war das Risiko für versuchte und vollendete Suizide bei trigemino-autonomen Kopfschmerzerkrankungen und posttraumatischem Kopfschmerz höher als bei den anderen Kopfschmerzformen.
„Unsere Ergebnisse legen nahe, dass nicht nur bei Migräne und trigemino-autonomen Kopfschmerzerkrankungen, sondern auch bei anderen Kopfschmerzstörungen ein starker, robuster Zusammenhang mit Suizidversuchen und vollendeten Suiziden besteht“, schreiben die Autoren. „Das gilt offenbar auch für Spannungskopfschmerzen – einer häufig vorkommenden Kopfschmerzform mit leichter bis mittelschwerer Ausprägung. Das deutet darauf hin, dass auch bei leichteren Kopfschmerzstörungen das Suizidrisiko erhöht sein könnte.“
Bei Männern und Frauen beobachteten die Wissenschaftler ähnlich hohe Zusammenhänge zwischen Kopfschmerzstörungen und Suizidversuchen bzw. vollendeten Suiziden. Weiterhin stellten sie fest, dass Patienten mit Kopfschmerzstörungen häufiger Antidepressiva und Opioide einnahmen und häufiger körperliche oder psychiatrische Erkrankungen hatten als Teilnehmer der Kontrollgruppe.
Die Ursachen, die zu einem erhöhten Suizidrisiko beitragen, sind bisher nicht klar und vermutlich komplex. „Menschen mit Kopfschmerzstörungen haben häufig psychiatrische Erkrankungen wie affektive Störungen, Angststörungen oder Substanzmissbrauch“, erläutert Erstautorin Holly Elser. „Vermutlich besteht ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen Kopfschmerzstörungen und psychiatrischen Erkrankungen: Auf der einen Seite können sich Kopfschmerzen durch die psychischen Symptome verstärken. Auf der anderen Seite können schwere Kopfschmerzen zu Gefühlen wie Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit führen, die zu Selbstmordgedanken und -absichten beitragen können.“
Weiterhin haben bisherige Studien gezeigt, dass auch dann einen Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und Suizidalität besteht, wenn der Einfluss von komorbiden psychiatrischen Erkrankungen bereits berücksichtigt wurde. „Daher könnte es auch sein, dass das Suizidrisiko allein durch das Erleben wiederholter, starker Kopfschmerzepisoden steigt“, sagt die Neurologin.
Darüber hinaus könnte es auch physiologische Zusammenhänge geben: Veränderungen im serotonergen System und bei inflammatorischen Zytokinen könnten zu Kopfschmerzstörungen, aber auch zu psychiatrischen Symptomen beitragen, die wiederum das Suizidrisiko erhöhen können.
„Unsere Ergebnisse haben eine klare klinische Bedeutung“, betont Elser. „Sie legen nahe, dass bei Patienten mit Kopfschmerzstörungen psychiatrische, insbesondere depressive Symptome und Suizidalität frühzeitig erfasst werden sollten.“ Dazu könnten kurze Rating-Fragebögen eingesetzt werden, etwa das „Patient Health Questionnaire 9“, in dem mithilfe von neun Fragen der Schweregrad depressiver Symptome erfasst wird oder die „Columbia Suicide Severity Rating Scale“, mit der die Ausprägung suizidaler Gedanken und Verhalten beurteilt werden kann.
„Wichtig ist auch, dass Patienten mit Kopfschmerzstörungen von Spezialisten oder einem Team aus Spezialisten betreut werden, die die komplexen Zusammenhänge zwischen Schmerzen, psychiatrischen Symptomen und Suizidneigung im Blick haben und diese mit medizinischen und verhaltensbasierten Maßnahmen behandeln“, sagt Elser. „Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, mögliche ungünstige Auswirkungen von Kopfschmerzmedikamenten auf psychische Symptome und von einer psychiatrischen Medikation, etwa Antidepressiva, auf die Kopfschmerzen im Auge zu behalten.“
So werden bei der Behandlung von Depressionen teilweise trizyklische Antidepressiva in höherer Dosierung eingesetzt. Das kann sich jedoch ungünstig auf die Kopfschmerzstörung auswirken. In diesem Fall sollte eine Umstellung der Medikation auf Antidepressiva erster Wahl wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erfolgen und als Kopfschmerzmedikation Antiepileptika wie Topiramat in Erwägung gezogen werden, schreiben die Autoren.
Nicht erfasst wurde in der Studie, wie sich die Art, Schwere und Chronizität der Kopfschmerzen und das Ansprechen auf eine Behandlung auf das Risiko für versuchte und vollendete Suizide auswirken. „Diese Aspekte könnten jedoch den Zusammenhang zwischen Kopfschmerzen und Suizidrisiko deutlich beeinflussen“, so die Autoren. „Ihr Einfluss sollte daher in zukünftigen Studien untersucht werden.“
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