Nicht nur die Politik muss sich in Europa einig werden – auch im Gesundheitssystem müssen wir zusammenstehen. Nur mit realistischen Zielen überstehen wir diese unsicheren Krisenzeiten. Ein Kommentar.
Schockwellen laufen durch das Land, nachdem durch den Eklat im Weißen Haus offensichtlich wurde, was wir lange nicht wahrhaben wollten: Die USA fallen als Partner und Schutzmacht weg. Europa ist auf sich allein gestellt.
Das Warten hat also ein Ende. Das Warten auf den nächsten US-Präsidenten, der den alten Kuschelkurs wiederherstellt und bei dem wir uns wieder wohlig zurücklehnen und unsere kleinen Probleme ausfechten können. Aber auch das Warten auf den nächsten Gesundheitsminister, der uns endlich ein Gesundheitssystem baut und reformiert, in dem es wieder Spaß macht, zu arbeiten. Es wird schon werden – oder eben auch nicht!
Wir müssen uns nun also dem Unausweichlichen stellen: Der Aufbau einer Verteidigungsfähigkeit wird Geld kosten und wo soll das herkommen, wenn nicht aus allen Bereichen der Gesellschaft? Auch aus dem Gesundheitswesen. Veränderungen werden unausweichlich sein. Bitte ehrlich machen – die ungebremste Steigerung der Kosten wie zuletzt war auch vorher schon dauerhaft nicht verkraftbar. Das wird jetzt erst recht nicht mehr so weitergehen können.
Doch kaum ist man in der neuen Realität angekommen, erscheint die Entwarnung am Horizont: 500 Milliarden Infrastrukturinvestitionen. Da ist das Ding! Der Befreiungsschlag, endlich die Investitionen, die die kritische Infrastruktur auf den notwendigen Stand der Medizin hieven werden. Krankenhäuser, Versicherungen, Anästhesisten, KBV, die Pharmaindustrie – alle sind binnen Stunden mit Erklärungen in der Öffentlichkeit, warum gerade ihr Bereich das Geld unbedingt benötigt.
So schnell kann es gehen: aus dem Krisenmodus in Goldgräberstimmung. Bei Betrachtung dieses Rattenrennens schwankt man zwischen Interesse und Abscheu.
Ja, wir brauchen Geld im Gesundheitswesen. Sowohl Kliniken als auch Praxen wurden über Jahrzehnte systematisch kaputtgespart. Aber wir brauchen auch Reformen. Viele Baustellen warten auf Bearbeitung: Bürokratieabbau, Schließung von maroden Krankenhäusern ohne Zukunft, Reduktion der Krankenkassen und vieles mehr. Und wer den Reformbedarf jetzt wieder mit Geld zuschütten will, hat den Ernst der Lage des Landes nicht verstanden. Jeder Bereich der Gesellschaft muss seine Hausaufgaben machen, damit wir wieder ein resilientes, ernstzunehmendes Land werden, in dem rechtsextreme, populistische Parteien keinen Nährboden finden.
Und wie wichtig ein stabiles und verlässliches Gesundheitssystem ist, haben wir zuletzt gesehen: Gerade einmal 5 Jahre ist es her, da wurden wir Medizinberufler im Frühjahr 2020 Mittelpunkt einer Pandemie. Der damals unsichtbare Feind, ein neues Virus, lähmte und schockte das Land, von einem Tag auf den anderen. Damals haben wir eigentlich die Erfahrungen gemacht, dass wir die Krise meistern können: Unser Gesundheitssystem mit vielen kleinen Praxen, vielen großen Krankenhäusern zeigte sich sehr widerstandsfähig. Wir haben die Gesellschaft gut durch diese Krise gebracht.
Genauso werden wir das jetzt auch bewältigen können – insbesondere, weil wir uns jetzt besser vorbereiten können. Allerdings muss jedem Player der Ernst der Lage bewusst sein. Es ist leider nicht mehr alles machbar, was machbar sein könnte. Deswegen: Lasst uns das Geld nehmen, es sinnvoll investieren und bitte dennoch die nötigen Reformschritte gehen!
Wir müssen uns realistische Ziele setzen. Und vor allem: Zusammen- und nicht gegeneinander arbeiten. Hausärzte, Fachärzte, Niedergelassene und Krankenhäuser, Krankenkassen, Gesundheitspolitik und Industrie müssen jetzt mehr denn je Hand in Hand gehen. Jetzt wäre die Zeit dafür, ein stabiles, resilientes Gesundheitssystem zu schaffen. Und damit auch eine Basis für die Gesellschaft zu legen, auf der wir die kommenden Aufgaben bewältigen können.
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