Irgendwo im ländlichen Süddeutschland auf einer „Schneewittchen-Wache“: 12h RTW Tagdienst im Spätherbst. Als Rettungsdienstler in der Zeitarbeit bin ich wechselnde Wachen gewöhnt, neue Menschen, neue Fahrzeuge, neue Einsatzgebiete und oft auch neue Handlungsanweisungen. Die Wache hier habe ich zuletzt vor etwa einem halben Jahr von innen gesehen, die meisten Gesichter erkenne ich und auch mich kennt man noch. Der bisherige Dienst war ruhig, meine Kollegin, eine junge Notfallsanitäterin, und ich hatten also viel Zeit zum Checken, Lernen für die Uni und auch mal eine Folge Netflix.
Am späten Nachmittag, es ist schon am dämmern, da geht der Melder: Einsatz RTW + NEF, Patient männlich 5 Jahre, SHT.
Also los, ab in den Rettungswagen, Blaulicht an und Abfahrt. Kurz nach uns fährt auch unser NEF los. Per Funk erhalten wir die Mitteilung der junge Patient hätte unter einem Trampolin gelegen, als andere Kinder auf dem Trampolin zu springen angefangen hätten. Kurz darauf funkt die Leitstelle uns erneut an – der Junge wäre jetzt bewusstlos.
Bewusstloses Kind, Schädelhirntrauma, vielleicht sogar eine Hirnblutung, keine alltägliche Meldung in Zeiten von vielfach beklagten „Taxifahrten“ für Husten , Schnupfen, Heiserkeit. Wir erwarten also einen Einsatz außerhalb der Routine, auch das haben wir Erlernt, trotzdem ist besondere Vorsicht und Vorbereitung gefragt.
Auf Anfahrt sprechen wir uns ab, ich öffne die passende Seite in meinem Nachschlagewerk, wir gehen die Medikamentendosierungen und Standartwerte durch. Vom „Worst-Case“ ausgehend planen wir die wichtigsten Entscheidungen für die ersten Minuten:
Nach knapp 15 Minuten Fahrzeit treffen wir am Zielort unseres Navis ein – einem Supermarktparkplatz. Ein Trampolin? Weit und breit nicht zu sehen.
Nach anfänglicher Verwirrung kommt eine junge Frau auf uns zu, sie sagt es würde um ihren Sohn gehen, er wäre im Auto.
Jetzt trifft auch das NEF ein, sofort übernimmt der Notarzt die Patientenversorgung. Im PKW treffen wir einen etwas verwirrten aber wachen und orientierten jungen Mann an. Die Mutter berichtet er wäre lediglich für 5-10 Sekunden bewusstlos gewesen, daher wollte sie mit ihm in die Kinderklinik fahren, jetzt habe er sich einmal unterwegs übergeben und sie hätte daraufhin den Notruf gewählt.
Neubewertung: wir haben kein bewusstloses Kind vor uns, stattdessen steigt der junge Patient selbstständig aus dem PKW und kommt auf dem Arm seiner Mutter mit in unseren RTW. Dort erfolgt eine gründliche Untersuchung und Anamnese.
Jetzt heißt es einen Gang zurückfahren, raus aus dem Modus kritisch krankes Kind. Rein in den Modus pädiatrischer Patient, Vertrauen aufbauen, die Mutter beruhigen, entspannt mit dem RTW in die Kinderklinik. Kein RTH, keine Neurochirurgie, keine Uniklinik.
Mit dem bisherigen Plan im Kopf fällt es meiner Kollegin und mir schwer kein kritisch krankes Kind zu sehen, wir sind immernoch im Fixierungstunnel.
Unser Patient ist gut führbar, hat keine Angst und lässt sich problemlos vom Notarzt einen Venenzugang legen. Die kindliche Neugier wird deutlich als er sogar fragt ob das in diesem Röhrchen „mein Blut“ sei.
Vor dem Transportbeginn bittet der Notarzt mich Vomex und Midazolam aufzuziehen. In unserem Tunnel des kritisch kranken Kindes gefangen stellt sich uns gar nicht die Frage der Notwendigkeit. Also ziehe ich die beiden Ampullen zügig unter Beachtung des 4-Augen-Prinzip auf. Das in Fleisch und Blut übergegangene CRM lässt uns die Dosierung für beide Medikamente nocheinmal im Buch überprüfen.
Nun erklärt der Notarzt der Mutter, dass er ihrem Sohn ein Medikament gegen die Übelkeit geben wird und dann „damit er entspannt bleibt auf der Fahrt“ noch ein Beruhigungsmittel, er meine es gut. Die Mutter willigt ein.
31 mg Vomex aufgeteilt auf Bolus und Kurzinfusion verträgt unser 20kg Patient gut.
Die 2 mg Midazolam hingegen nicht, aus dem eben noch ruhigen Kind wird in kürzester Zeit ein agitierter, sich auf der Trage aufbäumender Haufen Elend.
Die Vitalparameter bleiben stabil, dafür ist unser Patient jetzt aber nicht mehr zu bändigen. Weitere wirkungslose 2 mg Midazolam später greift unser CRM. Meine Kollegin und ich weisen darauf hin, das weitere Repititionen keine sinnvolle Maßnahme sind. Verbale Versuche den Jungen zu beruhigen scheitern, eine sichere Fixierung auf der Trage für die Fahrt ist so nicht möglich. Schlussendlich entscheidet der Noarzt den Patienten mit einer niedrigen Dosis Propofol zu sedieren, endlich ist der Patient transportfähig und wir starten Richtung Kinderklinik – allerdings nicht mehr zur reinen Commotio-Abklärung sondern gen Überwachungsbett bis die Wirkung des Midazolams abgeebbt ist.
Der Einsatz ging für alle Beteiligten gut aus.
Nachbesprechung & Reflexion
Im Nachgespräch unseres RTW Teams analysierten wir anschließend die Situation und wie es so weit kommen konnte.
Im Tunnel des „kritisch kranken Kindes“ waren wir Opfer eines Fixierungsfehlers und haben eine potentiell unnötige Medikamentengabe mit ihren unerwünschten Nebenwirkungen nicht direkt als solche erkannt. Der Notarzt selbst, wahrscheinlich im selben Tunnel, wollte dem Kind lediglich „etwas Gutes tun“.
Pharmakologisch hatten wir es mit der seltenen, paradoxen Wirkung von Midazolam auf noch nicht vollends ausgereifte Gehirne von Kindern zu tun. Die Inzidenz bei Erwachsenen beträgt etwa 1,4% (https://doi.org/10.1016/j.dld.2014.04.007), für pädiatrische Patienten fehlen bisher ausreichende Daten.
Normalerweise greift Midazolam als GABAA-Agonist am GABA A Rezeptor an und sorgt über einen GABA-abhängigen Chlorid-Ionen-Einstrom für eine Hyperpolarisation der Synapse und damit für eine dämpfende, Amnesie-auslösende, zentral-relaxierende und anxyolitische Wirkung.
Als in der Medizin tätige Menschen haben die Meisten von uns ein großes Ziel: das Wohl des Patienten. Je nach Berufsgruppe und Setting können das ganz unterschiedliche Dimmensionen des Patientenwohls sein, oft versuchen wir mit den uns zur verfügung stehenden Mitteln unangenehme Situationen des Patienten zu behandeln oder sogar zu vermeiden.
Genau das ist auch unumstritten richtig, dennoch müssen wir immer bedenken, dass die meisten unserer Therapieoptionen nicht nur positive Wirkungen haben.
Als Learning aus diesem Einsatz konnten wir folgendes mitnehmen:
Nicht jeder Fall von „gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht“ endet so glimpflich, die Lektüre eines Falls einer tödlichen Reaktion auf Prednisolon sei hier ans Herz gelegt.
Quellen
Bildquelle: unsplash - Ian Taylor