„Wer krank ist, wird behandelt. Wer böse ist, kommt ins Gefängnis“ – doch wie leistet man einem Menschen Beistand, wenn man der Meinung ist, dass der sie nicht verdient?
Als ich mich heute dem so vertrauten, massiven Tor meiner Anstalt nähere, ist auf den ersten Blick alles anders. Ich bleibe kurz an den drei alles überragenden Fahnenmasten vor der Treppe zur Torwache stehen. Meinen Kopf muss ich in den Nacken legen, um die Spitze der Masten zu sehen. Sie blicken seit mehreren Jahrzehnten stoisch auf die Anstalt nieder und haben in der Zeit so einigen Stürmen getrotzt. Eine europäische, eine deutsche und eine bayerische Flagge: Sie hängen in der Mitte der Masten, als hätten sie heute Morgen nicht ganz die Kraft gehabt, bis nach oben zu klettern.
Der Ministerpräsident hat Trauerbeflaggung angeordnet. Bayern steht still. Gestern, eine Woche vor der Bundestagswahl, fuhr ein 24-jähriger Afghane in eine Menschenmenge. Mit voller Absicht. Er lebt. Was ungewöhnlich ist. Normalerweise richten sich solche Täter nach ihren Gräueltaten selbst. Er ist noch am selben Tag nach Stadelheim in Untersuchungshaft verbracht worden.
Unabhängig davon, was diese Tat politisch und religiös bedeutet, geht mir heute vor allem eine Sache durch den Kopf: Irgendjemand muss das Zugangsgespräch führen. Suizidprophylaxe, denn wir müssen verhindern, dass sich unsere Tatverdächtigen umbringen. Und es widerstrebt mir, von einem „Tatverdächtigen“ zu sprechen – es ist doch kein Verdacht. Er hat das getan, vor den Augen von hunderten Menschen. Soweit ich weiß, bestreitet er auch nichts. Wie auch.
Jeder Gefangene in Deutschland hat das Recht auf psychologische Betreuung. Schreibt unser Attentäter also einen Antrag, äußert suizidale Gedanken oder zeigt anderweitig psychologischen Bedarf, so muss einer von uns da hin und ihn „stabilisieren“. Dabei ist das nicht der erste Gefangene, bei dem mir zu dieser Gelegenheit unheilige Gedanken durch den Kopf schießen. Ich bin auch nur ein Mensch. Karma möge mir den Gedanken verzeihen – aber wäre die Welt ein schlechterer Ort, wenn sich dieser Mann heute Nacht aus dem Leben verabschieden würde?
Was würde ich machen, wenn ich bei diesem Mann im Gespräch Hinweise auf konkrete und akute Suizidalität erlangen würde? Niemand hört, was wir sprechen. Es wäre rein an meinem Berufsethos und meiner Moral gelegen, dass ich dies melde. Im Vollzug funktionieren wir in diesen Situationen. Wir beten uns vor, dass wir großen Ärger bekommen würden, wenn wir hier etwas übersehen. Aber der ein oder andere Bedienstete würde dies im Sinne der Güterabwägung wohl in Kauf nehmen.
Es ist ein kompliziertes Unterfangen, einen solchen Gefangenen sicher unterzubringen. Auch die anderen Gefangenen wissen in der Regel, wer der Neue ist. In diesem Fall sind eine Mutter und ihr Kind zu Tode gekommen. Ein Kind. Unter Gefangenen das schlimmste Verbrechen, das es gibt. In der Hierarchie ganz unten. Ein Mensch, der den Tod eines Kindes zu verantworten hat, hat im Gefängnis nichts zu lachen.
Ein solcher Gefangener ist auf einem regulären Gang nicht sicher. Er muss geschützt werden, obwohl niemand in der Belegschaft das Bedürfnis dazu verspürt. In der Regel wird er isoliert untergebracht. Kameraüberwacht in einer sogenannten Sicherheitszelle. Er hat überwachten Einzelhofgang und geht selbstverständlich allein duschen.
Ich denke heute auch an den Psychiater, der diesen Menschen begutachten muss. Was, wenn der Täter nicht nur einen religiösen Wahn, sondern eine waschechte Psychose hat, nicht schuldfähig ist? Im extremen Falle an einer behandelbaren Psychose leidet, die zum Beispiel substanzinduziert ist und damit gute Chancen auf Heilung hat?
In einem solchen Falle würde der kranke Täter in eine Psychiatrie nach § 63 StGB eingewiesen und nach § 20 StGB quasi freigesprochen werden. Sobald er erfolgreich behandelt wurde und „keine weiteren Straftaten von ihm zu erwarten sind“ würde er wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Schwer zu glauben?
Süddeutsche Zeitung, 13.6.2017: „Völlig unvermittelt entwickelt sich aus der Routine eine Schießerei am Bahnhof in Unterföhring. Vier Menschen werden von Kugeln getroffen und schwer verletzt. Ein Projektil trifft die 26-jährige Polizeikommissarin am Kopf.“
Die Polizistin ist seitdem schwerst pflegebedürftig, der Täter ist inzwischen wieder frei. Laut Gutachter litt er an einer paranoiden Schizophrenie. Diese wurde erfolgreich behandelt. Das Gesetz macht Sinn, wenn man sich vorstellt, man selbst hätte einen geistigen Kurzschluss, tut schlimme Dinge ohne dies zu wollen und ist einige Wochen später wieder derselbe Mensch wie früher. Dieses Gesetz macht weniger Sinn, wenn man der Ehemann, die Mutter oder die Tochter der Polizistin ist.
Auch der Attentäter hat ein Recht auf eine ordentliche Begutachtung. Eine Prüfung, ob er überhaupt zu bestrafen ist. Niemand will so etwas. Aber es ist sein Recht. Wer krank ist, wird behandelt. Wer böse ist, kommt ins Gefängnis. Außerdem muss jeder in Deutschland die Chance erhalten, irgendwann wieder in Freiheit zu kommen. 300 Jahre Gefängnis, wie in Amerika, das gibt es hier nicht. Lebenslang bedeutet zwar wirklich lebenslang (und nicht 15 Jahre, wie manche glauben), aber nach 15 Jahren wird geprüft, ob der Straftäter auf Bewährung vorzeitig entlassen werden kann. Kann er das nicht, gibt ihn der deutsche Staat nicht auf, sondern prüft weiter in regelmäßigen Abständen, ob nun nicht doch endlich eine Einsicht eingetreten ist.
Ich kann mir vorstellen, dass einige von euch mit den Augen rollen und nach Ausnahmen schreien. Todesstrafe oder Pranger für solche Monster wie jenen, der „im Namen Gottes“ mit einem Wimpernschlag zwei Menschenleben ausgelöscht und etliche weitere schwer verletzt und traumatisiert hat. Jener, der Wassermassen auf die Mühlen der rechten Propaganda gießt. Der dafür gesorgt hat, dass sich hunderte, vielleicht tausende in unserem sicheren Heimatland nicht mehr sicher fühlen.
Aber ist nicht genau das der Punkt, der uns von diesen gottlos verkorksten Individuen unterscheidet? Eine Behandlung mit einem festgelegten Maß an Respekt. Die Tatsache, dass jedes menschliche Wesen ein paar wenige Grundrechte behält, egal, was es verbrochen hat? Einen ordentlichen Prozess, der nach festen Regeln abläuft?
Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Schon im Alten Testament heißt es „Auge um Auge und Zahn um Zahn“. Und an Tagen wie heute ist es sehr hilfreich, dass die Art, wie ein Gerichtsprozess abzulaufen hat und die Art der zulässigen Strafen schriftlich verbindlich festgehalten wurden. Dass es Protokolle gibt, an die man sich zu halten hat, damit nicht unsere primitivsten Bedürfnisse – auch, wenn sie uns absolut zustehen – die Oberhand gewinnen. Damit die Zivilisation über unseren Schmerz siegen und am Ende die demokratische Grundhaltung gewinnen kann.
Bildquelle: Getty Images, Unsplash