Viele Menschen leiden an seltenen Erkrankungen. Für die Behandlung stehen Ärzten immer mehr neue Medikamente zur Verfügung – doch das hat seinen Preis.
Es mag paradox klingen, aber eines sind seltene Erkrankungen nicht – und zwar selten. Nach der in der EU geltenden Definition betrifft eine seltene Erkrankung nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen, d. h. die Prävalenz liegt höchstens bei 1:2.000. Insgesamt sind rund 6.000 bis 8.000 solcher Erkrankungen bekannt. Da jede dieser Erkrankungen selten vorkommt, es aber so viele verschiedene davon gibt, sind insgesamt sehr viele Menschen von ihnen betroffen.
Man geht davon aus, dass 6–8 % der Bevölkerung von einer seltenen Erkrankung betroffen sind. Für Deutschland bedeutet dies, dass etwa 4 Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung leiden. Etwa ebenso viele Menschen leiden in Deutschland an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), die koronare Herzkrankheit (KHK) ist nur geringfügig häufiger. Insgesamt sind seltene Erkrankungen also häufig.
Bei Volkskrankheiten wie COPD und KHK schreitet das Wissen um Prävention, Diagnostik und Therapie immer weiter voran und kommt den Patienten zugute. Bei den seltenen Erkrankungen hingegen gibt es noch große Wissenslücken; die therapeutischen Möglichkeiten sind oft begrenzt. Für den Einzelnen ist es jedoch zunächst unerheblich, ob es sich bei seiner Erkrankung um eine häufige oder seltene Erkrankung handelt, für ihn zählt die Schwere der Symptome. Und seltene Erkrankungen gehen oft mit gravierenden Einschränkungen der Lebensqualität und der Lebenserwartung einher.
„Häufiges ist häufig“ – diesen Spruch hat wohl jeder Assistenzarzt schon einmal in der Klinik gehört. Jungen Assistenzärzten sagt man nach, dass sie oft seltene Erkrankungen vermuten, wenn sie diese kurz zuvor an der Uni kennengelernt haben. Mit zunehmender Erfahrung setzt sich dann allmählich die Erkenntnis durch, dass eine atypische Manifestation einer häufigen Erkrankung immer noch wahrscheinlicher ist als eine typische Manifestation einer seltenen Erkrankung.
Die Kehrseite dieses zunehmenden Pragmatismus kann ein sich verfestigendes Schubladendenken sein. Das Vorliegen einer bestimmten seltenen Erkrankung ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Deshalb arbeiten bei diagnostisch kniffligen Fällen im Idealfall Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen und Erfahrungsstufen zusammen, um auch seltene Erkrankungen nicht zu übersehen.
Nicht jeder Arzt kennt jede Krankheit. Bei Verdacht auf eine seltene Erkrankung kann eine Überweisung an ein Zentrum für seltene Erkrankungen daher sinnvoll sein. Solche Zentren gibt es an verschiedenen Universitätskliniken, dort ist die Expertise sowohl für die Diagnosestellung als auch bei gesicherter Diagnose für Therapieentscheidungen gebündelt. Viele seltene Erkrankungen sind genetisch bedingt, oft treten die ersten Symptome bereits im Kindesalter auf.
Das muss aber nicht so sein, auch genetisch bedingte Erkrankungen können sich erst im Erwachsenenalter manifestieren. So treten zum Beispiel bei der spinozerebellären Ataxie die Koordinationsstörungen erst im Erwachsenenalter auf. Der Morbus Wilson manifestiert sich häufig im jungen Erwachsenenalter mit Leberversagen und/oder neuropsychiatrischen Symptomen.
Spätestens wenn die Therapie versagt und der Verlauf der Symptome nicht mit der vermuteten Erkrankung übereinstimmt, sollte an eine seltene Erkrankung gedacht werden und eine entsprechende weitere Abklärung oder Überweisung erfolgen.
Auch nach der Diagnose warten weitere Herausforderungen: Obwohl die genetischen (oder anderen) Ursachen und oft auch die Pathophysiologie vieler seltener Erkrankungen bekannt sind, sind die meisten dieser Krankheiten nicht heilbar und spezifische Therapien sind oft nicht verfügbar. Die Entwicklung wirksamer Medikamente ist schwierig, da oft nicht genügend Probanden für Studien zur Verfügung stehen und der potenzielle Absatzmarkt klein ist.
Pharmaunternehmen wollen und müssen Geld verdienen. Je kleiner die Patientengruppe, desto schwieriger ist es für Pharmaunternehmen, die hohen Forschungs- und Entwicklungskosten zu decken – ganz im Gegensatz zu Medikamenten für weit verbreitete Volkskrankheiten, die millionenfach verschrieben werden.
Um die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Krankheiten dennoch attraktiv zu machen, gelten für diese Medikamente, die so genannten „Orphan Drugs“, besondere Regeln: In der EU werden für Orphan Drugs geringere Zulassungsgebühren erhoben, die Forschung wird finanziell gefördert und nach der Zulassung wird ein sogenannter Marktexklusivitätsstatus für 10 Jahre gewährt.
In dieser Zeit darf (außer bei Nachweis einer erheblichen Verbesserung) kein ähnliches Medikament für die gleiche Indikation auf den Markt gebracht werden. Diese Sonderregelungen, die in der EU im Jahr 2000 eingeführt wurden, haben dazu geführt, dass seitdem deutlich mehr Medikamente gegen seltene Krankheiten zugelassen wurden.
Der besondere Status der Orphan Drugs stellt das Gesundheitssystem vor finanzielle Herausforderungen, wie das Beispiel der spinalen Muskelatrophie (SMA) zeigt. Bei dieser Erkrankung kommt es genetisch bedingt zu einem fortschreitenden Verlust von Motoneuronen, also Nervenzellen, die die Muskulatur steuern. Dadurch nimmt die Muskelkraft immer mehr ab, zum Tod führt schließlich die Lähmung der Atemmuskulatur.
Bei der schwersten Unterform SMA1 sterben die betroffenen Kinder unbehandelt innerhalb der ersten zwei Lebensjahre. In den letzten 10 Jahren wurden drei neue Medikamente gegen SMA zugelassen, eines davon (Zolgensma®) ist eine Gentherapie, die ausschließlich für die schwerste Unterform SMA1 zugelassen ist.
Einmal mit dem Medikament behandelt, überleben die Kinder das Kleinkindalter und lernen selbständig zu sitzen, manche sogar zu stehen und zu laufen. Wird das Medikament eingesetzt, bevor die ersten Symptome auftreten (wenn die Krankheit also zum Beispiel durch ein Neugeborenen-Screening entdeckt wird), entwickeln sich die behandelten Kinder sogar ähnlich wie gesunde Kinder.
Die Kosten für die Spritze belaufen sich auf rund 2 Millionen Euro. Ein Preis, den man gerne zahlt, wenn man damit einem todgeweihten Kind ein annähernd normales Leben ermöglichen kann. Was aber, wenn es für immer mehr seltene Krankheiten wirksame Therapien zu einem ähnlichen Preis gibt? Es ist unwahrscheinlich, dass die Krankenkassen all diese Medikamente bezahlen können, selbst wenn die Sozialversicherungsbeiträge noch so hoch steigen.
Andererseits erscheint es ethisch kaum vertretbar, einem Betroffenen ein wirksames Medikament vorzuenthalten, wenn dadurch großes Leid verhindert werden kann. Der medizinische Fortschritt ermöglicht es, immer mehr seltene Krankheiten nicht nur besser zu diagnostizieren, sondern auch gezielt zu behandeln. Gleichzeitig stellt uns dieser medizinische Fortschritt vor eine große Herausforderung: Wie kann ein Gesundheitssystem langfristig bezahlbar bleiben, wenn hochspezialisierte Therapien Millionen kosten?
Bildquelle: Getty Images, Unsplash