Ein Mann verliert beide Brüder im Krieg, seine kleine Schwester ist schwer verletzt, seine Mutter liegt im Sterben – nun kommt er in meine Sprechstunde. Wie ich in solchen Fällen reagiere.
Anruf aus dem Zugang: „Lotte, kannst du dir den Atalai mal holen? Der kommt aus Gaza, vor zwei Tagen sind seine beiden Brüder getötet und die kleine Schwester schwer verletzt worden, und heute hat er noch erfahren, dass seiner Mutter beide Beine abgetrennt wurden. Die wird’s wohl nicht überleben, weil in Gaza steht kein Krankenhaus mehr. Jetzt geht’s dem nicht gut.“
Ja, so kommunizieren wir hier wirklich. Nicht, weil wir ein bisschen dissozial sind, sondern weil man eben effektiv arbeiten möchte. Und ein bisschen hält das den ganz großen Terror auch aus unseren Köpfen fern.
Ich hole den Herren und einen Gefangenen, der übersetzen kann. Ich erfahre, dass die beiden sich von draußen kennen. „Salam Aleikum“ – „Wa aleikum assalam.“ Das war es im Grunde mit meinem Arabisch. Aber diese Worte waren schon oft ein Türöffner. Vielleicht signalisiert es Respekt und guten Willen. Ich habe mir schon vor Jahren angewöhnt, meine Klienten, mit denen ich keine gemeinsame Verständigungssprache habe, zumindest in ihrer Muttersprache zu begrüßen.
Der Herr aus Gaza steht vor mir. Kaum größer als ich, in den schwarzen Lederschlappen, die wir hier als „Hausschuhe“ austeilen und der typischen graublauen Hose. Sie ist ihm zu groß und hat ihre besten Zeiten hinter sich. Draußen würde man solche gottlosen Fetzen nicht einmal mehr als Putzlappen verwenden, hier drinnen werden sie wohl noch als Beinkleid für 30–40 weitere Gefangene dienen. Mit zwei dünnen Streifen Stoff, die er vermutlich aus einer der weißen Feinripp-Anstaltsunterhosen herausgerissen hat, hält er den Hosenbund vorne zusammengeknotet. Er trägt ein löchriges Unterhemd mit fragwürdigen Flecken, und darüber den militärgrünen Parka, den sie hier ausgeben.
Eigentlich würde ich ihn erstmal auffordern, sich ordentlich zu bekleiden, aber der Mann ist ein Schatten seiner selbst. Er weint. Auf dem kurzen Weg zu meinem Büro müssen wir mehrfach anhalten, da sein Körper von wellenartigen Weinkrämpfen durchgeschüttelt wird. Er geht in die Knie und sitzt schluchzend auf dem Gang. Sein Kumpel kniet sich neben ihn, legt den Arm fest um seine Schultern, flüstert auf Arabisch in sein Ohr. Nach einigen Momenten zieht er ihn dann so gut es geht wieder auf die Beine.
Scheiße. Ich hasse solche Gespräche. Es gibt absolut nichts, was man sagen kann, das die Situation besser macht. Man ist nur da. Teilt den Schmerz. Und man versucht verzweifelt herauszufinden, ob man nicht DOCH etwas tun kann, um zu helfen. Einfach irgendetwas tun.
Natürlich weiß ich, dass es in einer solchen Situation nicht darauf ankommt etwas zu tun, sondern nur darauf, „da zu sein“. Aber das fällt mir schwer. Tun ist leichter als nichts tun. Aktion gibt Kontrolle. Man fühlt sich so machtlos.
Unsere Ärzte bieten in einer solchen Situation direkt Tavor® an. Das ist einfach, das ist schnell. Und man hat das Gefühl, etwas getan zu haben. Tavor ist ein zentral wirksames Medikament, das der Kategorie der Benzodiazepine zugeordnet wird. Es sediert und wirkt auch anxiolytisch. Es nimmt aber nicht den Schmerz. Kein Medikament kann das.
Die Brüder sind weiterhin tot, die Mutter liegt weiterhin im Sterben, und in Gaza ist weiterhin Krieg. Auch, wenn die Sinne des Gefangenen für ein paar Stunden benebelt sind. Er wird vor dem selben Scherbenhaufen aufwachen, vor dem er dank des Medikaments weich schaukelnd in seinem Bett eingeschlafen ist. Nur dann sind wir nicht mehr da und müssen seinen Schmerz ertragen. Das macht die Medi-Gabe so verlockend.
Ich habe keine Tavor®. Mein Werkzeug ist das Wort, die Kraft der Kommunikation, Katharsis durch Erzählen, Strukturieren durch zirkuläres Nachfragen, Sortieren durch die Schilderung des Erlebten. Nur das Wort.
Hätte ich den Weg der Medizin gewählt, stünde mir vielleicht ein anderer Werkzeugkasten zur Verfügung. Doch ich habe mich für die Psychologie entschieden, weil ich an die transformative Kraft des Gesprächs glaube. Und wer weiß – vielleicht würde ich in manchen Momenten selbst die vermeintlich einfache Lösung durch Medikamente wählen, wenn sie mir denn offen stünde.
Herr Atalai ringt nach Worten um die Geschehnisse, seine Stimme bricht. Immer wieder stockt er, schreit, Tränen laufen ihm übers Gesicht, Rotz rinnt ihm aus der Nase. Ich schiebe die Tücherbox in seine Richtung. Ich frage nach, beteuere mein Beileid, frage nach den anderen Familienmitgliedern und lasse ihn weinen. Die Israeli haben das Haus bombardiert, in dem seine Mutter mit seiner kleinen Schwester wohnte. Hilfskräfte konnten die beiden aus den Trümmern bergen. Beide liegen nun in einer Art Lazarett. Seiner Mutter wurden die Beine abgerissen. Man müsste das operieren, aber das können die in dem Lazarett nicht, und das Krankenhaus wurde schon vor Wochen dem Erdboden gleichgemacht.
Ich versuche mir die Situation vorzustellen, aber mein geistiges Auge betritt nur einen düsteren Kinosaal, in dem sich die grausamsten Szenen aus Nachrichten und Kriegsfilmen abspielen. Bilder von Krankenschwestern, deren Augen die Schatten unzähliger Albträume tragen, während sie durch ein Meer aus Leid waten. Blutüberströmte Körper, auf Feldbetten aufgereiht wie gefallene Soldaten auf einem Schlachtfeld, füllen den Raum. Abgerissene Körperteile, absolute Hilflosigkeit. Schreie, die mir wie ein rostiges Messer durch meinen Gehörgang schneiden, hallen durch die kalte, stinkende Dunkelheit. Es ist ein Inferno des Schmerzes, ein Tanz der Verzweiflung, der sich vor meinem inneren Auge abspielt. Und eine beklemmende Gewissheit kriecht in mir hoch: Diese Visionen der Hölle könnten von der Realität in Gaza gar nicht so weit entfernt sein.
„Er möchte mit seiner Mutter telefonieren. Er will sie noch einmal hören, bevor …“ Ich bin dankbar für einen Arbeitsauftrag. Gefangene in Untersuchungshaft dürfen nicht so ohne weiteres telefonieren. Aber wenn keine Beschränkungsbeschlüsse von Seiten des Gerichtes vorliegen, liegt es im Ermessen des zuständigen Juristen des Hauses. Ich wähle also Frau Gleixners Nummer. Sie hebt ab, ich schildere ein bisschen zu hektisch die Umstände. Sie hält kurz inne. „Ist das verifizierbar?“ Mist. Frau Gleixner ist eine wirklich empathische Frau, aber eben – wie wir alle – gefangen in den Vorschriften, Gesetzen und Dienstanweisungen innerhalb derer wir uns unseren Handlungsspielraum freiboxen müssen.
„Nein. Ist es nicht. Er behauptet es. Und ich glaube ihm.“ Ich höre selbst, dass diese Argumentation nicht mein stärkster Auftritt war. So ist es hier nun mal. Man bekommt von Seiten der Gefangenen viel konfabulatives Konstrukt aufgetischt. Zum Teil auch sehr glaubwürdig. Man wird hier oft verarscht, und man ist aus gutem Grund angehalten, keiner Schilderung ohne ausreichender Verifizierung Glauben zu schenken. Erst recht nicht, wenn daraus irgendeine Vergünstigung erwachsen soll.
„Lassen Sie ihn bitte gleich telefonieren und machen Sie einen Aktenvermerk, dass ich das genehmigt habe.“
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich bedanke mich in einem Tonfall, wie ihn kleine Kinder an den Tag legen, wenn sie vor Freude ein bisschen überdreht sind und lege viel zu schnell auf. Ich will sofort diese Mutter anrufen.
Er wählt die Nummer … keine Verbindung. Wir versuchen es noch einmal … nichts. Der Dolmetscher erklärt, dass vor ein paar Tagen in der Zeitung stand, dass die Telefonleitungen in Gaza tot sind. Ich versuche es selbst … noch einmal … und nur zur Sicherheit noch ein letztes Mal. Ich google „Gaza Telefon“: „kein Internet und Mobilfunk mehr in Gaza. Aufgrund der Bombardierung …“ Ich lese nicht weiter. Herr Atalai hat bereits kapiert, was Phase ist. Ich verspreche ihm, alle paar Stunden in den nächsten Tagen die Nummer zu wählen und ihn ins Büro zu holen, sobald die Leitungen wieder frei sind. Tatsächlich habe ich häufig eine Liste von Telefonnummer im Büro liegen, die ich regelmäßig wähle. Aus verschiedenen Gründen. Manchmal sind es Anwälte, die Ihr Mandat als Pflichtverteidiger nicht ganz so ernst nehmen, wie man sich das vorstellen würde. Manchmal Ehefrauen, die benachrichtigt werden müssen, aber nicht gerne abheben, wenn eine fremde Nummer erscheint. Manchmal Arbeitgeber, die benachrichtigt werden sollen. Nichts davon ist so richtig meine Aufgabe. Aber es ist effektiv. Es entlastet mehr als jedes Gespräch, wenn man die Familie, den Arbeitgeber oder den Anwalt informiert weiß. Es kostet ein paar Minuten und es ist eine einfache Lösung. Und die ist hier drinnen eh selten.
Herr Atalai weint. Er erzählt noch ein bisschen von seiner Familie. Ich frage Suizidalität ab. Er ist Moslem. Gläubig. Das ist gut. Denn der Koran verbietet die Selbsttötung recht eindeutig. Ich erinnere ihn daran. Er dankt mir.
Ich erkläre noch, dass wir entscheiden werden, ob er in seinem Haftraum bleiben kann. Denn dort spricht niemand seine Sprache. Nicht die beste Voraussetzung, um durch eine solch schwere Nacht zu gehen. Der Dolmetscher grätscht rein: „Er kann bei mir! Er ist bei mir voll willkommen!“ Gute Idee, aber die Beiden sind eigentlich keine sehr gute Mischung. Sie haben sich draußen vermutlich nicht beim Minigolf kennengelernt. Der Dolmetscher ist jetzt auch kein Musterknabe und hat in den letzten Wochen fleißig Diszis (Disziplinarmaßnahmen) gesammelt: Medikamente gebunkert (vermutlich um sie zu verkaufen), täglich aus dem Fenster geschrien, im Hof zum Spaß andere Gefangene geschubst, außerdem sehe ich eine frische Tätowierung am Handrücken und auf zwei seiner Finger klebt ein verdächtig großes Pflaster. Weitere Tätowierungen vermutlich. Das ist zwar momentan nicht das Thema, aber dem Dienstleiter wird die Idee wohl trotzdem nicht gefallen.
Ich bringe die Zwei erstmal zurück und schnaufe durch. Dann veranlasse ich eine Arztvorführung und kündige mich beim Dienstleiter an.
Der Arzt verpasst Herrn Atalai später eine Tavor® und der Dienstleiter winkt tatsächlich seine Verlegung zu seinem Kumpel durch. Mehr ist heute wohl nicht zu erwarten.
Ich wähle noch bis kurz vor Feierabend immer wieder die Nummer auf dem abgegriffenen, alten Telefon in meinem Büro. Immer, aber heute besonders, bin ich unfassbar dankbar, wie jeden Abend in meine absurd heile Welt nach Hause zurückkehren zu dürfen.
Bildquelle: Andrej Lisakov, Unsplash