Wer lieber Zeit mit der Computermaus als der Partnerin verbringt, hat womöglich ein Problem. Was man bei suchtartiger Nutzung des Internets tun kann.
So wunderbar die Segnungen des Online-Zeitalters sind, so naheliegend ist auch sein Suchtpotenzial – etwa, wenn der schnelle Instagram-Check doch wieder ausufert. Wie viele Menschen den Verlockungen so weit erliegen, dass ihre Internetnutzung Suchtcharakter hat, weiß man nicht genau. Eine Erhebung von 2011 kam auf 1 %, inzwischen geht man eher von 7 % aus. Männer sind anfälliger als Frauen, nur in der Altersgruppe von 14 bis 16 scheint es umgekehrt zu sein.
Jetzt ist unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie die S1-Leitlinie „Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen“ erschienen. Obwohl die Autoren die Literatur systematisch durchsucht haben und deshalb ein höheres Label als S1 verdient hätten, ist das Phänomen dafür zu neu und die Evidenzlage zu mager.
Neben der generischen Internetnutzungsstörung kennt die Fachwelt als Unterformen eine gestörte Nutzung von Computerspielen, Sozialen Netzwerken, Pornographie und Shoppen. Die Autoren sprechen bewusst von „Störung“. Der Begriff „problematische Nutzung des Internets“ greift zu weit, weil er beispielsweise auch die Cyberchondria, die zwanghafte Suche nach medizinischen Informationen im Internet, einschließt. Auch der Begriff „Internetsucht“ ist problematisch, weil er das Verhalten bereits als Sucht abstempelt und das Medium selbst problematisiert.
Für die Diagnose verweist die Leitlinie auf die beiden Kriterienkataloge ICD-11 der WHO sowie die DSM-5 der American Psychiatric Association. Laut ICD-11 ist von einer Computerspielstörung auszugehen, wenn jemand im Alltag durch sein Internetverhalten funktionell beeinträchtigt ist, es nicht kontrollieren kann, dem Internet steigende Priorität einräumt und trotz negativer Konsequenzen nicht davon lassen kann. Das erinnert sehr an andere Süchte, was insofern nicht überrascht, als die Erklärmodelle ähnlich sind und es zudem physiologische Parallelen gibt.
Zur Diagnostik eignen sich diverse Fragebögen. Zum Thema Pornografie-Nutzungsstörung etwa empfehlen die Autoren den Brief Pornography Screener (BPS), die Problematic Pornography Consumption Scale (PPCS-6), das Hypersexual Behavior Inventory (HBI) sowie den Compulsive Sexual Behavior Disorder Scale (CSBD-19). Die Fragebögen werden einzeln diskutiert, deren Inhalte muss man aber selbst recherchieren.
Ein Beispiel: Der vor allem für die „zeitökonomische Abklärung“ empfohlene Brief Pornography Screener fragt, ob man
• mehr Pornos schaut als man möchte• sich erfolglos zu mäßigen versucht• der Versuchung nur schwer widerstehen kann• damit auf starke Emotionen reagiert• trotz Schuldgefühlen weiterschaut
Für die Antwortet „manchmal“ bekommt man einen Punkt, für „oft“ zwei. Bei insgesamt mehr als 4 Punkten hat man höchstwahrscheinlich ein Problem. Die Autoren betonen, dass die abschließende Diagnose jedoch erst nach einem zusätzlichen Interview gestellt werden sollte.
Zur Therapie eignen sich vor allem kognitive Verhaltenstherapie und Psychoedukation. In Einzelfällen, und unter Berücksichtigung von Komorbiditäten, bieten sich auch Medikamente an, wie Bupropion, Escitalopram, Methylphenidat und Atomoxetin.
Ein kleiner Kritikpunkt: Unsauber dargestellt ist der Empfehlungsgrad von zusätzlichen Maßnahmen. So heißt es unter „Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick“ etwa zur Elektroakupunktur, sie „sollte genutzt werden“. Hier lohnt Weiterlesen unbedingt, denn die korrekte Empfehlung lautet „kann erwogen werden“ – ein riesiger Unterschied.
Selbst diese schwächst mögliche Empfehlung erscheint noch überzogen. Die wenigen zitierten Originalarbeiten, publiziert in Organen wie dem Journal of Traditional Chinese Medicine und dem Chinese Journal of Integrative Medicine, sind nicht verblindet oder nicht randomisiert oder beides nicht. Bedenkt man auch noch die niedrige Vortestwahrscheinlichkeit von Akupunktur, ist die Evidenz für einen möglichen Nutzen verschwindend gering. Wenn das schon für eine Erwähnung in der Leitlinie reicht, könnten ebenso gut auch Gebete aufgenommen werden, denn die können – der Webseite christianpure.com folgend – „ein effektiver Weg sein, um sich von der Sucht zu befreien“.
In einem eigenen Kapitel der Leitlinie geht es um E-Health Interventionen. Schließlich wird mit „zunehmender Digitalisierung des Gesundheitsmarktes“ die Bedeutung „internetbezogener Therapieangebote“ noch wachsen. Wenn die mal kein Suchtpotenzial haben.
Bildquelle: Jordan Gonzales, Unsplash