Bei Diabetes und Adipositas sind GLP-1-Rezeptor-Agonisten schon im Einsatz. Eine Studie will jetzt 42 neue Indikationen entdeckt haben. Werden die Alleskönner ihrem Ruf gerecht?
Süßes ist im Allgemeinen positiv konnotiert – ein süßes Baby, ein süßer Klang, ein dank hoher Abfindung versüßter Rauswurf. Süßes Blut allerdings hat als Diabetes Krankheitswert. Etwa jeder zehnte Erwachsene ist von Diabetes betroffen, bei jedem fünfzigsten ist er unerkannt. Diabetiker haben im Schnitt ein fast doppelt so hohes Sterberisiko wie Zuckergesunde. Ein bekömmlicher Lebenswandel und Medikamente sollen den Blutzuckerwert senken, um die Risiken für Bluthochdruck, koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz,Schlaganfall und Depression zu vermindern.
Als Volkskrankheit mit langer Behandlungsdauer ist Diabetes für die forschende Pharmaindustrie so attraktiv, dass sich neben dem Standardmittel Metformin weitere Substanzgruppen auf dem Markt drängen: SGLT-2-Inhibitoren, Sulfonylharnstoffe, DPP-4-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptor-Agonisten. In jeder Substanzgruppe gibt es wiederum diverse Wirkstoffe, von jedem Wirkstoff verschiedene Präparate.
Speziell die Gruppe der GLP-1-Rezeptor-Agonisten hat über die Diabetestherapie hinaus Furore gemacht, weil die vermeintliche Nebenwirkung Gewichtsverlust in eine erwünschte Wirkung für Übergewichtige umgemünzt wurde. Inzwischen ist etwa der Wirkstoff Semaglutid als Diabetes-Mittel (Ozempic® und Rybelsus®) wie auch als Abnehmspritze (Wegovy®) zugelassen. Die FDP forderte jüngst, dass Abnehmspritzen nicht mehr als Lifestyle-, sondern als Adipositas-Medikamente gelten und deshalb von den Kassen bezahlt werden sollten.
Wo schon zwei Einsatzgebiete erschlossen werden konnten, geht möglicherweise noch mehr – das dachten sich auch drei US-Wissenschaftler aus St. Louis und Washington und untersuchten die Auswirkung von GLP-1-Rezeptor-Agonisten auf 175 Krankheiten, indem sie eine Art Landkarte der Effekte erstellten. Dafür analysierten sie in einem Entdecker-Ansatz („discovery approach“) Daten aus der US Department of Veterans Affairs Datenbank von insgesamt knapp zwei Millionen Veteranen, die im Schnitt knapp vier Jahre lang eine Diabetestherapie bekommen hatten. Die Wissenschaftler verglichen verschiedene Gruppen von Patienten miteinander – die einen hatten GLP-1-Rezeptor-Agonisten bekommen, die anderen jeweils Präparate aus den anderen Substanzgruppen.
Wie die Forscher in ihrer Veröffentlichung „Mapping the effectiveness and risks of GLP-1 receptor agonists“ in Nature Medicine nun zeigten, sanken die Risiken für sage und schreibe 42 Erkrankungen – ein recht bunter Strauß mit Leberversagen, Schizophrenie, Demenz, Alkoholmissbrauch, Bakterieninfektionen, akuter Nierenverletzung, tiefen Venenthrombosen, Neigung zu Suizid und vielen anderen. Für 19 Erkrankungen stiegen die Risiken.
Können Patienten der Abnehmspritze jetzt als One-for-all-Präparat in ihrem Medizinschrank einen Ehrenplatz einräumen? Und kann die dänische Firma Novo Nordisk, die mit Semaglutid prächtig verdient und deshalb gerade zum wertvollsten Unternehmen Europas gekürt wurde, seine Forschungslabore weiter aufstocken, da doch 42 neue Einsatzgebiete locken? Sagen wir, sie sollten vielleicht noch eine Nacht darüber schlafen.
Denn so spektakulär die Befunde zu sein scheinen und so selbstbewusst die Autoren schreiben, dass ihre Studie „bislang unbekannte Vor- und Nachteile aufdeckt“, so wenig belastbar sind die Ergebnisse am Ende. Hauptgrund dafür ist die schlichte Weisheit der evidenzbasierten Medizin, dass eine retrospektive Kohortenstudie wie diese hier, lediglich Koinzidenzen, aber keine Kausalitäten feststellen kann. Schließlich könnten auch unterschiedliche Zusammensetzungen der Vergleichsgruppen und nicht die Substanzen selbst für die Effekte verantwortlich sein.
Wie ernst sind die Ergebnisse also zu nehmen? In den Leitlinien zu Diabetes und Adipositas geht es primär um diese beiden Indikationen, und auch aus den Fachinformationen zu den Präparaten geht nicht hervor, ob die 42 möglichen Einsatzgebiete realistisch sind. Das Patientenblatt zu GLP-1-Rezeptor-Agonisten, basierend auf der NVL Diabetes, gibt immerhin an, dass etwa Liraglutid herzbedingte Todesfälle und Nierenschäden teilweise verhindern kann.
Die Autoren der Studie aber verweisen in der Diskussion ausführlich darauf, dass viele ihrer Ergebnisse keineswegs überraschend kommen. So hätten sich in Tierversuchen und dutzenden hochwertiger Studien GLP-1-Rezeptor-Agonisten bereits als wahre Wundertüten erwiesen. So gäbe es Hinweise auf ihr Potenzial bei diversen Suchtkrankheiten, psychotischen Erkrankungen, Selbstmordgedanken, Depressionen, Demenz, Krämpfen, Herzkreislauf- und Nierenkrankheiten, tiefe Venenthrombosen, Sepsis und Infektionen. Ihre eigene Studie würde diese Hinweise bestätigen. Das werten sie als Beleg dafür, dass auch an den von ihnen neu entdeckten positiven Effekten etwas dran sein könnte.
Die 19 negativen Effekte handeln die Autoren dagegen äußerst knapp ab. Sie schreiben lediglich, dass man ihren Entdeckungen in weiteren Untersuchungen nachgehen solle. Nur: Aussagekräftige Zulassungsstudien mit tausenden Probanden gibt es bereits. Entsprechend lassen sich die Fachinformationen ergiebig zu den unerwünschten Wirkungen aus, die in kontrollierten und randomisierten klinischen Studien – also in weit verlässlicheren Analysen als dem Entdecker-Ansatz – sowie in Meldungen nach der Markteinführung ermittelt wurden.
Für die Präparate mit dem Wirkstoff Semaglutid beispielsweise listen die Fachinformationen rund 30 Nebenwirkungen auf. Die unterscheiden sich erheblich von den 19 Krankheitsrisiken, die der Entdecker-Ansatz gefunden hat: Ganze vier negative Wirkungen finden sich in beiden Listen, nämlich Übelkeit und Erbrechen, Reflux, Bauchschmerzen sowie Gastritis. Alle anderen Nebenwirkungen stehen nur in einer der beiden Listen. So fallen im Entdecker-Ansatz statistisch signifikant etwa Nierensteine, Schlafstörungen, Arthritis und Hämorrhoiden negativ auf. Dafür fehlen laut Fachinformation häufige bis sehr häufige Nebenwirkungen wie Schwindel, Gallensteine sowie Komplikationen bei diabetischer Retinopathie. Die möglichen Folgen für Patienten mit nicht kontrollierter oder potenziell instabiler diabetischer Retinopathie werden als potenziell so gravierend angesehen, dass diesen Patienten von Semaglutid abgeraten wird.
Unterm Strich bleibt von der Studie in Nature Medicine wenig Substanzielles. Denn entweder bestätigt sie Vermutungen, die man bereits hatte, dann ist der Neuigkeitswert gering. Oder sie deckt neue potenzielle Einsatzgebiete auf, das aber mit schwacher Evidenz. Wie schwach diese tatsächlich ist, zeigt ein Blick auf die lange Liste der in hochwertigen Studien festgestellten Nebenwirkungen, die der Entdecker-Ansatz – seinem forschen Namen zum Trotz – glatt übersehen hat.
Bildquelle: Fellipe Ditadi, Unsplash