Nach Jahren hat Roche endlich Zugang zu allen Tamiflu-Studien gewährt. Der Kassenschlager des Schweizer Pharmariesen entpuppte sich nach Einschätzung der Cochrane Collaboration als Mogelpackung. Roche hält die Gutachter für unfähig.
Die Story um Tamiflu® (Oseltamivir) beginnt im Jahr 2003, als eine kleine Metastudie dem Neuraminidase-Hemmer gute Karten ausstellt: Unter dem Medikament sollen grippebedingte Folgeerkrankungen wie Lungenentzündung oder Bronchitis seltener auftreten. Im Jahr 2005 folgte eine Metastudie der Cochrane Collaboration, die anhand von Übersichtsarbeiten verschiedene Therapien nach objektiven Kriterien und unabhängig von industriellen Interessen bewertet. Auch sie bestätigte die vielen Vorteile einer Therapie mit Tamiflu – aufgrund der damals zur Verfügung stehenden Studiendaten. Inzwischen haben die Wissenschaftler die Studie zurückgezogen. Etwa vier Jahre hielt sich der Star am Grippehimmel, bis sich 2009 die Zweifel häuften, ob Tamiflu tatsächlich die Häufigkeit schwerer Komplikationen verringern könne. Außer einer minimal verkürzten Krankheitsdauer (von 7 auf 6,3 Tage bei Erwachsenen) konnte die Metaanalyse von 20 Einzelstudien keine Wirkung von Tamiflu feststellen. Eine Verkürzung der Krankheitsdauer war zudem nur dann zu beobachten, wenn die Patienten innerhalb von 24 Stunden nach Auftreten erster Symptome mit der Einnahme des Medikaments begonnen hatten.
Etwa zeitgleich ging weltweit die Angst vor der Schweinegrippe um. Mit Tamiflu konnte Roche die ängstlichen Gemüter beruhigen. Gemäß dem Pandemieplan des Robert Koch-Instituts von 2007 lagerte die deutsche Regierung Dosen für 20 Prozent der Bevölkerung ein. Auch ausländische Regierungen sicherten sich ab. 1,3 Milliarden US$ ließ sich die US-Regierung ihre Notfallreserven an antiviralen Medikamenten kosten, das Vereinigte Königreich war mit 424 Millionen £ dabei. Aus Angst vor der drohenden Pandemie deckten sich auch zahlreiche Bürger, meist auf Privatrezept, mit dem Medikament ein.
Im selben Jahr folgte ein weiterer Tamiflu-Skandal: Das ohnehin schon marginale Wirkspektrum war offenbar nur durch knapp die Hälfte der Studiendaten belegt worden. Den Rest hielt der Hersteller Roche unter Verschluss. Selbst den unabhängigen Cochrane-Forschern gewährten sie keinen Einblick in relevante Patientendaten und Analysen. Teile ihrer Korrespondenz mit dem Pharmariesen veröffentlichten die Cochrane-Wissenschaftler im Jahr 2012 im British Medical Journal.
Erst letztes Jahr zahlte sich die Hartnäckigkeit der unabhängigen Forscher aus – Roche legte die Studien offen. Die kürzlich veröffentlichten Auswertungen von 20 Studien zu Tamiflu (und 26 zu Relenza® – Wirkstoff Zanamivir von GlaxoSmithKline) bestätigten die schlimmsten Vermutungen: Die Daten von mehr als 24.000 Patienten belegten einen noch geringeren Nutzen der Grippemittel bei noch schlimmeren Nebenwirkungen als bisher angenommen. Die neuen Metastudien zeigen: Keiner der beiden Neuraminidase-Hemmer kann offenbar die teils schwerwiegenden Komplikationen einer Influenza-Infektion wie Lungenentzündung, Bronchitis, Nebenhöhlenentzündungen oder Mittelohrentzündungen oder eine Ansteckung mit dem Influenzavirus verhindern. Auch Krankenhauseinweisungen kamen unter der Medikation nicht seltener vor als ohne. Fünf Prozent der Patienten litten unter starker Übelkeit und Erbrechen nach der Einnahme von Tamiflu. Wurde der Neuraminidase-Hemmer vorbeugend eingenommen, entwickelte ein Prozent der Patienten psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie. Die Forscher berichten außerdem von Hinweisen, dass Tamiflu den Körper daran hindert, ausreichend Antikörper gegen das Influenzavirus zu produzieren. Die Cochrane-Forscher fordern, Nutzen und Risiken der Grippemittel neu zu überdenken.
Einzig in der Prophylaxe schreiben die Cochrane-Forscher Tamiflu eine gewisse Wirkung zu. Ihren Berechnungen zufolge sinkt die Infektionsrate unter dem Neurominidase-Hemmer um 3,05 Prozentpunkte, für Haushaltsmitglieder von Influenzaerkrankten um 13,6 Prozentpunkte. Dabei steigt allerdings das Risiko für Kopfschmerzen um 3,15 Prozentpunkte und von Übelkeit um 4,15 Prozentpunkte. Auch psychiatrische Erkrankungen kamen zu 1,06 Prozent häufiger vor. Wirkung Tamiflu:
Wirkung Relenza:
Roche äußerte sich folgendermaßen auf die Vorwürfe der Cochrane-Forscher:
Die Entscheidungen von weltweit 100 Zulassungsbehörden sowie die in der Anwendungspraxis gewonnenen Daten (“Real-World-Evidenz“) belegen, dass Tamiflu ein wirksames Arzneimittel zur Behandlung und Prävention der Influenza-Infektion ist. […] Wir begrüßen Forschung von Dritten und stellen klinische Daten zu unseren Medikamenten im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts bereit. Jedoch sehen wir die Cochrane-ARI-Gruppe, die sich selbst als unerfahren im Umgang mit großen Datenmengen aus klinischen Studienberichten ausweist, nicht als Instanz zur Beurteilung des Nutzens von Neuraminidasehemmern an.
Zudem hätten die Forscher nur 20 der 77 verfügbaren Studien einbezogen. Im März 2014 erschien außerdem im Lancet Respiratory Medicine eine von Roche gesponserte Studie, die Tamiflu bescheinigt, während der Pandemie 2009/2010 die Sterberate der Influenzaerkrankten um die Hälfte reduziert zu haben – allerdings nur, wenn die Patienten innerhalb der ersten 48 Stunden nach Symptombeginn mit dem Grippemittel behandelt wurden. Basis der Studie waren Daten von 29.234 Patienten. Den Schweizer Pharmariesen Roche dürfte die Debatte um seinen Kassenschlager insgesamt aber sicher wenig stören. Denn Tamiflu hat dem Konzern seit seiner Einführung im Jahr 1999, der Vogelgrippe 2006 und der Schweinegrippe 2009 mehrere Milliarden Euro Umsatz beschert. Relenza spielte bei der massenhaften Bevorratung durch die Regierungen wegen seiner umständlichen Applikation mit einem Inhaliergerät keine Rolle. Mit einer erneuten randomisierten Studie zur Wirksamkeit von Tamiflu ist aufgrund der hohen Kosten nicht zu rechnen, da das Patent für Tamiflu im Jahr 2016 auslaufen wird.