Als ich in Frau Mahlers Wohnung stehe, fällt mir ihre aufdringlich unästhetische Tapete aus den 70ern auf. Doch dann wird mir klar: Hinter jeder Wand steckt ein Leben. Ein Rettungseinsatz, der mich daran erinnert, warum ich diesen Beruf gewählt habe.
Die alte weißhaarige Dame heißt Frau Mahler und hat die 112 wegen ihrer Atemnot gewählt. Als mein Kollege Andreas und ich das Zimmer betreten, fühlt es sich an, als wäre die Zeit eingefroren – eine Stille, die mehr erzählt, als Worte je könnten. Jede Ecke scheint eine Geschichte zu flüstern, so als würde man ein Buch aufschlagen, dessen Seiten längst vergilbt, aber voller Leben sind. Mein Blick fällt auf die Tapete. Ich muss unwillkürlich den Atem anhalten.
Grasgrüne Farbe, durchzogen von seltsam verschlungenen Mustern, die aussehen, als hätte jemand einem Albtraum Gestalt gegeben. Es ist, als hätte die Wand selbst beschlossen, gegen jedes ästhetische Empfinden zu rebellieren. Wie kann jemand ernsthaft so etwas in seine Wohnung bringen, das vielleicht in den Zeiten der Siebzigerjahre modern gewesen sein muss? Und noch absurder: Wie kann man es einfach belassen, anstatt die Wand längst weiß zu streichen und das Kapitel dieser gewöhnungsbedürftigen Farbwahl zu schließen?
Im selben Moment verurteile ich mich dafür und beschließe, dass mich die Tapete nichts angeht. Dann stehe ich direkt vor Frau Mahler, um die es schließlich geht. Sie sitzt zusammengesunken auf ihrem durchgesessenen Sofa, das farblich gut zur Tapete passt. Ihre Hände liegen wie zum Gebet auf ihrem Schoß. Ihre Atemnot ist spürbar, als ich den Raum betrete. Sie ringt nach Luft, der Brustkorb hebt und senkt sich schnell, als würde ihr Körper gegen eine unsichtbare Last ankämpfen. Eine Locke hat sich von dem extra noch zurückgekämmten Haar gelöst und hängt ihr ins tief gefurchte Gesicht. Ich nicke meinem Kollegen zu, der sich das EKG-Gerät greift und die Taschen mit dem Zubehör öffnet. Die Wohnung riecht ungelüftet.
„Seit wann haben Sie Atemnot?“, frage ich und knie mich vor ihr nieder, um auf Augenhöhe zu sein. Andreas legt das Monitoring an und bereitet die Sauerstoffmaske vor.
„Seit gestern Abend“, flüstert sie. Sie macht eine kurze Pause, ehe sie hinzufügt: „Es wird aber nicht besser.“
Ich nicke. Die Temperatur liegt bei 39 Grad. Ihre Lippen sind leicht bläulich, ein Anzeichen für den Kampf, den die Lunge gerade ausfechtet. Die Sauerstoffsättigung auf dem Display des Pulsoxymeters bestätigt den Verdacht: 86 Prozent. Viel zu niedrig. Eine Pneumonie scheint dahinter zu stecken, was man deutlich hören kann. Andreas legt ihr die Maske über Mund und Nase und drückt den Knopf für die oszillatorische Blutdruckmessung.
„Das wird Ihnen helfen zu atmen“, erklärt er.
„Haben Sie Herzprobleme?“, frage ich weiter und bemerke, wie ihr Blick immer wieder zur Kommode wandert.
„Ja, mein Arzt sagt, ich habe etwas am Herzen. Aber ich nehme meine Tabletten“, erwidert sie. Ihre Stimme zittert, als sie spricht, doch sie ist fest genug, um mich an ihre Entschlossenheit zu erinnern. Diese Frau hat gekämpft – gegen die Zeit, gegen die Einsamkeit, und jetzt auch gegen ihren eigenen Körper.
Auf der Kommode, zu der ihr Blick immer wieder gleitet, stehen Fotos. Ein Bild zeigt sie und einen Mann, beide jung und lachend, offenbar auf einer Hochzeit. Daneben stehen weitere Bilder und zeigen Kinder und eine Familie, die einmal hier gelebt hat. Doch der Staub auf den Rahmen erzählt, dass diese Zeiten lange vorbei sind.
Ich sehe verzitterte Linien auf dem EKG-Monitor und ein unruhiges Herz, das im Takt des Lebens aus dem Rhythmus geraten ist. Aber der Hausarzt hat ihr Vorhofflimmern bereits medikamentös eingestellt.
„Wir bringen Sie in die Klinik. Sie brauchen ein paar Tage, dann sind Sie wieder fit“, sage ich. Sie nickt ohne Widerstand, als habe sie schon gewusst, dass dieser Moment kommen würde.
„Das ist mein Mann“, sagt sie und dreht ihren Kopf. Scheinbar hat sie meinen wandernden Blick bemerkt, und vermutlich auch, dass mir die Tapete ins Auge stach. Die Hand der alten Dame deutet auf das Hochzeitsfoto. „Er ist schon lange nicht mehr hier. Aber er hat die Tapete ausgesucht. Er sagt, sie würde den Raum so lebendig machen.“ Mit ihrer Stimme lässt die Frau die Vergangenheit mit ihrem Mann wie ein Echo unwiederbringlicher Momente auferstehen.
Ich blicke wieder auf die Wände. Ihr Mann hat recht gehabt. Es ist nicht einfach nur eine Tapete, sondern steht für das Design des Lebens, von Höhen und Tiefen erzählend, von Festen und Verlusten. Plötzlich scheint die Tapete durchzogen von kunstvollen Mustern, wie ein Fragment aus einer anderen Zeit. Die Struktur der Ornamente erinnert an ein Mosaik, das sich über die gesamte Wand spannt und Geschichten erzählt, die heute keiner mehr versteht. Die Tapete ist gealtert – ebenso wie die Frau, die in diesem Zimmer lebt. Aber die grüne Farbe ist wie ein Begleiter, der jeden Moment mitgetragen hat. „Er war ein guter Mann“, sagt sie, fast zu sich selbst. Ihre Stimme ist weich, beinahe verträumt. „Ich habe alles so gelassen, wie es war, als er fortgegangen ist. Die Tapete, die Bilder, die Möbel. Es erinnert mich daran, dass er nie ganz weg ist.“ Ich nicke, lächele und sage nichts.
In meinem Job als Notfallsanitäter begegnen mir viele Geschichten von Schmerz, von Verlust, von Menschen, die vergessen haben, wie wichtig es ist, zu leben. In diesem Moment denke ich daran, dass auch ich manchmal die Bedeutung des Lebens vergesse und Zeit damit verschwende, es einfach nur wie eine endlose To-Do-Liste abzuarbeiten. Das merke ich auch in meinem Beruf. Viel zu oft hetzen wir von Einsatz zu Einsatz, fast mechanisch, ohne innezuhalten, ohne uns bewusst zu machen, dass hinter jeder Atemnot und jedem Schmerz ein ganzes Leben steht. Ein Leben mit Liebe, Verlust, Hoffnung – und einer Geschichte, die es wert ist, gehört zu werden. Diese Einsicht sollte uns alle demütig machen und uns daran erinnern, warum wir uns diesen Beruf für uns ausgewählt haben.
Beim Anblick der Tapete frage ich mich, wie meine eigenen Wände wohl aussehen würden, wenn sie von meinem Leben erzählen könnten. Wären sie steril und leer, wie ein Raum, den ich nur zum Schlafen nutze? Oder würden sie die Geschichte einer erfüllten Zeit erzählen? Vielleicht sollte ich die Wände meines eigenen Lebens neugestalten, denke ich. Denn letztendlich habe ich die Wahl, ob ich sie mit Leere fülle oder mit Erinnerungen, Liebe und den Geschichten, die mich am Leben halten – und manchmal selbst vor dem Vergessen retten.
Als wir dem Team der Notaufnahme Frau Mahler übergeben hatten, wirft sie mir noch einen Blick der Dankbarkeit zu. Er erinnert mich daran, dass wir in unserem Beruf oft mehr tun, als Leben zu retten. Wir werden Teil der Geschichten, die Menschen erzählen. Und manchmal, wenn wir Glück haben, lernen wir aus diesen Geschichten etwas über unser eigenes Leben.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney