Wenn ein Patient seine Wünsche nicht mehr äußern kann, gilt der zuletzt kommunizierte Wille. Angehörige haben aber oft eigene Vorstellungen – denn vielleicht will die Tochter ja einfach nur schnell ans Erbe. Wie ich damit umgehe.
„Bitte erlösen Sie ihn!“ Der dunkle Blick der Frau ruht lange und nachdrücklich auf meinen Augen – mir läuft ein Schauer über den Rücken. „Ich verstehe Ihren Wunsch. Aber es geht hier nicht darum, ihre oder meine Wünsche zu erfüllen, sondern dem Willen Ihres Vaters gerecht zu werden.“ Die Frau runzelt die Stirn. „Aber das hier hätte er nie gewollt“. Das hier heißt: Intubiert und beatmet auf der Intensivstation zu liegen, tief sediert. Vielleicht hört er uns, vielleicht ist sein Gehirn auch schon irreparabel zerstört? Wer weiß das schon.
Der Patient war vor 2 Tagen stationär aufgenommen worden. Exsikkose, Verdacht auf Harnwegsinfekt, nichts Wildes. Die Aufnahmeärztin fragte nach Therapielimitierung: „Nein, keine Therapielimitierung“. Die Antwort kam schnell und nachdrücklich. Der Patient lebte zuhause, war dort noch mobil. Das Haus hatte er lange nicht mehr verlassen, aber er schien noch Freude am Leben zu haben. Auch das weiß niemand genau, wir am wenigsten. Unbestritten war er voll orientiert und hat seine Meinung klar geäußert.
Dann kam das Wochenende. Samstag frühmorgens, der Pfleger kommt ins Zimmer. Der Patient liegt schläfrig im Bett. „Guten Morgen, Herr Schäfer!“. Er macht kurz die Augen auf, eine Andeutung eines Lächelns huscht über sein Gesicht. 10 Minuten später geht der Pfleger nochmal ins Zimmer, ein Zufall – Blutdruckmanschette vergessen. Herr Schäfer reagiert nicht mehr. Rea-Funk!
Die Pflege drückt sofort, das Team trifft ein, Fragen hallen durch den Raum: „Was wissen wir über ihn? Wer hat ihn wann zuletzt gesehen?“. 10 Minuten später haben wir einen ROSC. Der Patient kommt auf die Intensivstation und dort stehe ich jetzt zwischen flackernden Monitoren, höre das leise Summen des Beatmungsgeräts und blicke in diese dunklen, unnachgiebigen Augen seiner Tochter. „Er hat eine Patientenverfügung! Und ich habe die Vorsorgevollmacht.“
Patientenverfügung – bindend oder nicht? (Credit: Verbraucherzentrale.de)
Mein Blogger-Kollege Narkosearzt Unterwegs schrieb kürzlich über diesen mir so wohlbekannten Satz „Die Angehörigen wollen, dass wir alles machen“. Ich musste daran denken, die Fälle ähneln sich und jeder ist doch so anders.
Es ist kompliziert
Bei Herrn Schäfer war es kompliziert. Er hat eine allgemein-formulierte Patientenverfügung („sollte ich mich im Endstadium einer unheilbaren Erkrankung befinden …“), die allerdings 10 Jahre alt ist. Und bei Einlieferung in die Klinik haben wir ihn mit der Frage nach Maximaltherapie oder Limitierungen konfrontiert. Er war eindeutig: „Keine Limitierung“. Der aktuelle Wille zählt – und der war nach dem Gespräch klar dokumentiert.
Ich schilderte der Tochter unser Dilemma. „Ja gut, aber dass er dann an DIESEN Maschinen hängt, das hat er sich sicherlich nicht vorgestellt und definitiv nie gewollt!“, erwidert sie aufgebracht. Ja, vielleicht. Aber vielleicht auch doch. Vielleicht gibt es auch eine große Erbschaft und wir werden langsam und subtil manipuliert – alles schon erlebt.
Ich stelle freundlich, aber bestimmt meinen Standpunkt klar: „Wir haben seinen Willen vor 2 Tagen erfahren. Er hat die Reanimation überlebt, wir wissen noch nicht, in welchem Zustand er ist. Wir können ihn nicht ‚erlösen‘, aber wir tun alles, um herauszufinden, ob und wie viel Schaden er genommen hat – und wir sprechen regelmäßig miteinander und überlegen zusammen, was dann am besten ist.“ Langsam entspannt sich die Atmosphäre, die Tochter willigt ein.
Aktuell gibt es viele Unbekannte, die No-Flow-Time kann zwischen 10 und einer halben Minute liegen, dementsprechend auch die möglichen Hirnschäden.Die Ursache des Kreislaufstillstands ist unklar, keine Elektrolytstörung oder Hypoglykämie, kein Infarkt, keine Lungenembolie. Wir bestimmen NSE, was nur minimal erhöht ist. Das erste Schädel-CT ist unauffällig. Der Patient atmet gut und suffizient, wir beginnen das Weaning, stellen auf CPAP und reduzieren die Sedierung.
Begleitend gibt es viele Gespräche mit der Familie. Die Tochter beginnt, unser Vorgehen zu akzeptieren – aus welchen Gründen auch immer. Zuletzt war noch nicht klar, wohin die Reise geht, aber ich bin froh, dass der Weg der richtige scheint.
Behandlung wider Willen?
Szenenwechsel. Ich stehe in der Notaufnahme. „Was mache ich hier eigentlich, ich wollte nicht ins Krankenhaus!“ faucht mich eine Patientin an. Der Rettungsdienst hat sie aus dem Heim hergebracht, dort war ein niedriger Blutdruck aufgefallen. Nach 500 ml Jonosteril® und etwas Akrinor® kam sie stabil bei uns an. Das Leben hat tiefe Spuren an ihr hinterlassen – schwere 3-Gefäß-KHK, Oberschenkelamputation bei pAVK, präterminale Niereninsuffizienz, pulmonale Rundherrde, die „nicht abgeklärt werden sollen“. Kurz gesagt: ein Vollpflegefall.
In der BGA ein Hb von 9 g/dl, ein Laktat von 8 und eine leichte metabolische Azidose. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht – und wir haben kein Intensivbett mehr. Was die Patientin will, ist schwer zu sagen. Sie wiederholt vor allem, dass sie „keine Lust hat“ und „nach Hause will“. Wir fragen dezidiert nach akuten Blutungen, Durchfall, Erbrechen, Schmerzen und Teerstuhl. „Nein, nein, nein!“ Es wirkt glaubhaft.
Wir rufen den Betreuer an. „Guten Tag, Sie haben das Betreuungsbüro Meier erreicht, drücken Sie 1 für Informationen zu Ihrem Vertrag …“ Das fängt ja gut an. Eine gefühlte Ewigkeit später haben wir ihn am Telefon und schildern die Situation. Mir schlägt eine Mischung aus Desinteresse und Aggression entgegen: „Sie machen natürlich alles!“ Ich atme tief durch. „Gut, das heißt wir suchen irgendwo im Landkreis ein Intensivbett, weil wir leider voll sind“. „Machen Sie das“, er legt auf. Ist das der richtige Weg?
Eine Stunde und 16 (!) abtelefonierte Kliniken später haben wir ein Bett, der Notarzt ist bestellt. Plötzlich fällt der Blutdruck ins Bodenlose. „Frau Müller?“ Keine Reaktion. Wir rennen und reanimieren wieder, 10, 20 Minuten. Nach 30 Minuten fällt uns ein scharfer Geruch auf: Teerstuhl, vermutlich doch eine GI-Blutung. Nach 40 Minuten hören wir auf. Ich rufe den Betreuer an und erzähle, was passiert ist. Weiterhin Desinteresse auf der anderen Seite. „Sollen wir eine Obduktion anstreben? Wir wissen nicht genau, was passiert ist.“ „Wem soll das was bringen?“, antwortet er, weitere Fragen hat er nicht.
Zwei gegensätzliche Schicksale und doch viele Gemeinsamkeiten. Die Motive der Handelnden sind schwer zu ergründen, manche Fragen werden nie geklärt. Besinnen wir uns auf das Wesentliche und versuchen, das Beste im Sinne des Patienten zu tun und seinem Willen gerecht zu werden – das ist oft schon schwer genug.
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