Vier von fünf Menschen mit Autoimmunerkrankungen sind weiblich. Die Gründe dafür sind bisher nur unvollständig erforscht. Ist das zusätzliche X-Chromosom schuld?
Schon lange ist klar, dass Frauen signifikant häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen sind als Männer. Die Prävalenz liegt über alle Altersgruppen unter Frauen bei fast 11 %, unter Männern hingegen nur bei gut 6 %. Der Unterschied nimmt mit steigendem Alter zu. Früher wurde vermutet, dass diese Diskrepanz auf die unterschiedliche Verteilung von Sexualhormonen zurückzuführen ist und durch die pro-inflammatorische Wirkung von Östrogen beeinflusst wird.
Seit einiger Zeit mehren sich jedoch die Hinweise, dass das X-Chromosom selbst eine entscheidende Rolle spielen könnte. So wurde beispielsweise gezeigt, dass eine Duplikation von verschiedenen Genen auf dem X-Chromosom im Mausmodell Autoimmunreaktionen auslöst. Darüber hinaus wurde beobachtet, dass Männer mit einem zusätzlichen X-Chromosom (Karyotyp 47,XXY, sog. Klinefelter-Syndrom) im Vergleich zu Männern mit dem Karyotyp 46,XY ein 14-fach erhöhtes Risiko haben, an systemischem Lupus erythematodes (SLE) zu erkranken.
Diese Beobachtungen führten zu der Hypothese, dass allein die Anzahl der vorhandenen X-Chromosomen das Risiko für Autoimmunerkrankungen erhöht. Kürzlich untersuchte daher eine retrospektive, multizentrische Kohortenstudie, ob es einen dosisabhängigen Effekt der Anzahl der X-Chromosomen auf die Prävalenz von SLE und dem Sjögren-Syndrom, beides Erkrankungen mit einer deutlichen weiblichen Prädominanz, gibt.
Dazu wurde die Prävalenz der beiden Erkrankungen bei über 113 Millionen Personen mit vier verschiedenen Karyotypen – 46,XY; 46,XX; 47,XXY (Klinefelter-Syndrom) und 47,XXX (Triple-X-Syndrom) – verglichen. Die epidemiologischen Daten wurden mithilfe des Gesundheits-Netzwerks TriNetX gesammelt. Eine Altersbegrenzung gab es nicht, jedoch wurden Patienten mit medikamentös induziertem SLE, koexistierendem SLE und Sjögren-Syndrom, Turner-Syndrom (45,X) oder weiteren zusätzlichen X-Chromosomen (z.B. 48,XXXY) von der Studie ausgeschlossen.
Innerhalb der gesamten Population lag die Prävalenz von SLE und dem Sjögren-Syndrom bei jeweils 0,23 %, wobei in beiden Fällen Frauen deutlich häufiger betroffen waren: Bei SLE war das Verhältnis 6,4:1 und beim Sjögren-Syndrom 5:1. Interessant war jedoch vor allem die Tatsache, dass sowohl bei Männern, als auch bei Frauen die Prävalenz beider Erkrankungen durch ein weiteres, akzessorisches X-Chromosom deutlich erhöht war: Beim SLE waren Männer mit Klinefelter-Syndrom im Vergleich zur Referenz (46,XY) 8,5-mal und Frauen mit Triple-X-Syndrom sogar 22-mal häufiger betroffen.
Etwas weniger stark – aber dennoch deutlich ausgeprägt – war der Unterschied in der Prävalenz des Sjögren-Syndroms. Hier waren Probanden mit Klinefelter-Syndrom 6,6-mal und mit Triple-X-Syndrom 11,5-mal häufiger erkrankt als Männer mit dem Karyotyp 46,XY.
Die Autoren der Studie konnten also tatsächlich einen dosisabhängigen Effekt finden: Mit steigender Anzahl an X-Chromosomen stieg auch das Risiko für Autoimmunerkrankungen – zumindest bei SLE und Sjögren-Syndrom. Diese Beobachtung könnte die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern zu einem Teil erklären.
Auffällig ist, dass der beobachtete Prävalenz-Unterschied zwischen Männern und Frauen in der Studie geringer war, als in vorherigen Studien beschrieben. Bei SLE war das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in der aktuellen Studie 6,4:1, in Voruntersuchungen hingegen 9:1. Ähnliches gilt für das Sjögren-Syndrom: hier war das Verhältnis 5:1 im Vergleich zum erwarteten Verhältnis von 14:1. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Prävalenzangaben zu beiden Erkrankungen in verschiedenen Studien sehr variabel sind. Zudem vermuten sie, dass die Ergebnisse davon beeinflusst sein könnten, dass in ihrer Studie auch Kinder eingeschlossen wurden und nicht nur Probanden im reproduktionsfähigen Alter.
Auch wenn durch die oben genannten Beobachtungen ein Zusammenhang zwischen der Anzahl von X-Chromosomen und Autoimmunerkrankungen nahe liegt, handelt es sich lediglich um eine Korrelation und keineswegs um eine Kausalität. Dennoch gibt es mögliche plausible Erklärungsansätze für den Effekt eines zusätzlichen X-Chromosoms auf Autoimmunität.
Verschiedene, auf dem X-Chromosom liegende Gene werden mit Autoimmunprozessen in Verbindung gebracht und es wird vermutet, dass eine Steigerung der entsprechenden Genprodukte das Risiko für Autoimmunreaktionen erhöht. Da ein X-Chromosom ausreicht und eine Überexpression von Genen auf dem X-Chromosom bei Frauen vermieden werden soll, wird eines der beiden X-Chromosomen in einem Prozess, der als X-Inaktivierung bezeichnet wird, stillgelegt. Dabei werden allerdings nur etwa 75–85 % aller Gene inaktiviert, sodass es möglicherweise zu einer Überexpression der nicht inaktivierten Gene kommt. Liegt jetzt zusätzlich ein weiteres X-Chromosom vor, könnte dieser Effekt weiter verstärkt werden.
Neben den oben genannten Abweichungen der Studiendaten von früheren Prävalenzdaten nennen die Autoren weitere Einschränkungen der Ergebnisse: Da sowohl das Klinefelter-Syndrom, als auch das Triple-X-Syndrom teils nur sehr diskrete körperliche Auffälligkeiten verursacht, wird eine hohe Dunkelziffer vermutet, sodass die Prävalenz möglicherweise noch deutlich höher ist. Zudem wurde auch beim Turner-Syndrom – bei dem ein X-Chromosom fehlt (45,X) – ein deutlich erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen beobachtet, sodass klar ist, dass weitere Faktoren bei der Pathogenese beteiligt sein müssen.
Dennoch weist diese groß angelegte Studie darauf hin, dass die Rolle des X-Chromosoms für die Pathogenese von Autoimmunprozessen von entscheidender Bedeutung sein kann und dass es sich lohnt, weiter daran zu forschen.
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