Demenz tritt meist bei älteren Menschen auf – doch auch Kinder können betroffen sein. Das ist zwar selten, verursacht aber großes Leid. Entsprechend wichtig sind Aufklärung und Forschung.
Wenn ein Kind aufhört zu sprechen, seine Sehkraft verliert und es seinen eigenen Namen nicht mehr weiß – denkt man dann an Demenz? Wohl kaum, denn Demenz tritt vor allem bei älteren Menschen auf. Die häufigsten Demenzformen treten vor allem in der Altersgruppe 80+ auf. Dazu gehören die bekannten Formen Alzheimer, vaskuläre Demenz oder Lewy-Körperchen-Demenz. Insbesondere bei der Alzheimer-Demenz treten immer wieder Erkrankungsfälle vor dem 65. Lebensjahr auf, man spricht dann von „early-onset Alzheimer“, Kinder sind jedoch nicht betroffen.
Dass eine Demenz auch bei Kindern vorkommen kann, ist wenig bekannt. Im Gegensatz zu den bekannten Altersdemenzen sind Erkrankungen mit dementiellen Symptomen bei Kindern sehr selten. Eine dieser seltenen Erkrankungen ist die Kinderdemenz NCL. Die Abkürzung NCL steht für Neuronale Ceroid Lipofuszinose. Wenn man versucht, diesen Namen auszusprechen, wird klar, warum gerne die Abkürzung verwendet wird. Der Name NCL fasst eine Gruppe genetisch bedingter neurodegenerativer Erkrankungen zusammen, die meist im ersten Lebensjahrzehnt auftreten.
NCL gehört zur Gruppe der lysosomalen Speicherkrankheiten, bei denen bestimmte Zellprodukte nicht abgebaut werden können und sich in den Zellen anreichern, was schließlich zum Zelltod führt. Normalerweise werden diese Stoffe abgebaut und wiederverwendet oder ausgeschieden. Bei einer lysosomalen Speicherkrankheit ist jedoch die zelluläre Müllabfuhr defekt. Die Zellabfälle werden weder recycelt noch anderweitig entsorgt und sammeln sich in den Zellen an. Mit der Zeit führt dies zu einer Verstopfung der Zellen mit Abfallprodukten. Die normale Zellfunktion kann nicht mehr aufrechterhalten werden und die Zellen sterben schließlich ab. Die Erkrankungen können verschiedene Organsysteme betreffen, bei NCL ist an erster Stelle das Nervensystem betroffen.
Wie selten die Krankheit ist, zeigen folgende Zahlen: In Deutschland sind etwa 700 Kinder an NCL erkrankt, weltweit geht man von 70.000 Betroffenen aus. Jährlich erkranken in Deutschland etwa 20 Kinder. Insgesamt tritt NCL mit einer Inzidenz von etwa zwei bis vier Personen pro 100.000 Lebendgeburten auf und ist damit zwar selten, aber die häufigste pädiatrische neurodegenerative Erkrankung. 700 Kinder sind zwar im Vergleich zu anderen Krankheiten nicht viel. Stellt man sich diese Zahl jedoch bildlich vor, wird deutlich, wie dramatisch die Situation ist. Man könnte sich ein großes Schulgebäude vorstellen – eine ganze Grundschule voller Kinder, die mit einer unheilbaren, fortschreitenden Krankheit leben müssen. Dazu kommen die betroffenen Familien.
NCL wird auch als Kinderdemenz bezeichnet, da Demenz ein Leitsymptom der Erkrankung ist. Daneben entwickeln betroffene Kinder epileptische Anfälle, verlieren ihr Sehvermögen und ihre motorischen Fähigkeiten. Die ersten Symptome treten in unterschiedlichen Altersstufen auf, je nach Zeitpunkt unterscheidet man folgende Unterformen:
Infantile NCL (CLN1):
Spätinfantile NCL (CLN2):
Juvenile NCL (CLN3):
Die Symptome werden durch Genmutationen verursacht, die die Zellmüllabfuhr beeinträchtigen. Derzeit sind 13 genetische Formen von NCL bekannt, die in unterschiedlichem Alter auftreten. Die genetische Grundlage vieler NCL-Erkrankungen ist also bekannt, auch ein Teil der biochemischen Auswirkungen der Mutationen auf die entsprechenden Enzyme und Proteine ist inzwischen gut verstanden. Die genauen zellulären Mechanismen, wie es von der Fehlfunktion der Enzyme bis zum Zelltod kommt, sind jedoch noch nicht im Detail bekannt.
Das ist auch der Grund, warum NCL bis heute nicht heilbar ist. Kaum eines der betroffenen Kinder erreicht das 30. Lebensjahr. Lediglich für die Unterform CLN2 gibt es seit Juli 2017 eine zugelassene intravenöse Enzymersatztherapie mit Cerliponase Alfa als kausale Therapie, die das Fortschreiten der Erkrankung verzögern kann. Ob das Medikament auch langfristig wirksam ist, muss sich noch zeigen. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung ist es, wie bei anderen seltenen Erkrankungen auch, äußerst schwierig, aussagekräftige klinische Studien durchzuführen.
Auch wenn in den meisten Fällen keine kausale Therapie möglich ist, gibt eine frühe Diagnose den betroffenen Familien Sicherheit und die erkrankten Kinder können so früh wie möglich mit einer adäquaten symptomatischen Therapie behandelt werden. Darüber hinaus haben die Familien die Möglichkeit, eine humangenetische Beratung in Anspruch zu nehmen. Die Zeit bis zur Diagnosestellung beträgt aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen durchschnittlich drei Jahre. Um diese lange Zeit zu verkürzen, ist es wichtig, bei den typischen Symptomen an NCL zu denken. Wenn ihr beruflich mit Kindern zu tun habt: Denkt an NCL, wenn bei einem bisher völlig altersentsprechend entwickelten Kind mindestens zwei der folgenden Symptome kombiniert auftreten:
Weitere Infos und Unterstützung findet ihr bei der NCL-Stiftung oder in spezialisierten Zentren.
Disclaimer:
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit der NCL-Stiftung, die sich für Forschungsförderung und Aufklärungsarbeit einsetzt. Sie stellt auch Fortbildungen für Ärzte zur Verfügung.
Neben der NCL-Stiftung gibt es folgende Ansprechpartner bei Fragen zur NCL:
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin mit einer NCL-Sprechstunde.
Die Selbsthilfegruppe NCL-Gruppe Deutschland.
Bildquelle: Ahmet Kurt, Unsplash