Das Leben meines Klienten in Deutschland ist vorbei – wegen eines Gramms Cannabis. Ich werde das Gefühl nicht los, dass manche Politiker bereit sind, für ihr Ego das Leben unzähliger Menschen zu zerstören.
Ich sitze in meinem Sprechzimmer im Gefängnis – mir gegenüber sitzt Herr R.
„Es geht mir schlecht. Ich komm einfach nicht drauf klar, dass ich wegen so einem Scheiß jetzt wirklich hier sitze.“
„Wegen welchem Scheiß sitzen Sie denn hier?“
„Ein Gramm Marihuana.“
Ich bin sofort sicher, dass ich angelogen werde, gehe direkt in den Konfrontationsmodus.
„Wieviel wurde insgesamt gefunden?“
„Ein Gramm.“
„Und daheim? Im Auto? Im Keller?“
„Ne, nix. Nur ein Gramm.“
Meist wird nur ein Teil der Geschichte erzählt. Man möchte ja die Psychologin auf seiner Seite und sich entsprechend gut darstellen. Ein Gramm in der Tasche, vier Kilo im Keller = ich sitze wegen einem Gramm.
„Sie hatten also Bewährung?“
„Nö.“
Auch dies ist eine beliebte Strategie die Wahrheit abzumildern. Man stand bereits dreimal vor Gericht wegen diverser Betäubungsmittel-Delikte, Körperverletzungen und Diebstahl, ist immer wieder mit Bewährung davongekommen und irgendwann kommt eben der Punkt, an dem der Richter einsehen muss, dass eine farblose Haftandrohung keine Wirkung zeigt.
Ich drehe mich in meinem Bürostuhl dem Bildschirm zu und rolle meine Augen erst, als der Gefangene mein Gesicht nicht mehr sieht.
„Dann schauen wir mal …“, sage ich und denke: „…wenn Du nicht mal den Arsch in der Hose hast, mir zu sagen, warum Du wirklich hier bist.“ Niemand kommt wegen einem scheiß Gramm Haschisch in Untersuchungshaft. Das würde ja in keinem Verhältnis stehen, so eine Untersuchungshaft ist schließlich arschteu…
„[…] übergab der Beschuldigte R. um 12.38 Uhr in der Ludwigstraße 1 Gramm Cannabis an den Zeugen N. zum Preis von 10 Euro.
Durch den Weiterverkauf der Betäubungsmittel wollte sich der Beschuldigte eine nicht unerhebliche Einnahmequelle von einigem Umfang und einer gewissen Dauer verschaffen.“
Hä?!
Wo steht denn der Rest? Ich suche das schmutzrosafarbene Dokument mit meinen Augen ab.
Wirkstoffgehalt 7,5 % THC … Fluchtgefahr […], denn der Beschuldigte ist Ausländer, Untersuchungshaft …
Ich kann es nicht glauben. Der „Ausländer“ spricht besseres Deutsch als einige meiner jüngeren Kollegen. Ich schäme mich sofort ein bisschen, dass ich meinem Klienten eine Lüge unterstellt habe und hoffe, ich war eben nicht zu ruppig.
„Ich hab‘ halt jetzt alles verloren. Ich war in so einem Programm und habe eine Ausbildung für Lagerlogistik gemacht. Ich war im dritten Lehrjahr. Ich hatte sogar eine kleine Wohnung. So ein Zimmer mit Küche. Das ist jetzt alles weg.“
Ich frage ab, ob es noch eine zweite Chance geben kann, ob man irgendwen kontaktieren und einen Wiedereinstieg beantragen kann, aber die Regeln des Programms sind klar: keine Drogen. Auch kein Gramm Cannabis. Und seine Chefin glaubt ihm eh nicht, dass das nur ein Gramm war. Er habe mit ihr auf der Polizeiwache telefonieren dürfen, berichtet er resigniert. Sie hält ihn für einen größeren Drogendealer. Meinte, sie habe sich ihn ihm getäuscht und dass man in Deutschland nicht wegen einem Gramm ins Gefängnis komme.
In Deutschland vielleicht nicht, aber wir sind hier in Bayern. Und ja: Die Regeln sind klar. Besitz und Konsum sind legal, aber man darf nicht verkaufen. Auch kein Gramm für 10 Euro.
Dennoch erlaube ich mir eine kleine Aufrechnung:
Laut Google kostet ein Gefangener im Schnitt 200 Euro pro Tag. Herr R. wird ca. drei bis sechs Monate (so knapp 36.000 Euro) bei uns bleiben, bis das Gericht ihm einen Termin einräumt, bei dem er mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit direkt vor Ort entlassen wird, da die Strafe mit der Untersuchungshaft abgegolten ist. Das hat sich mal gelohnt, Herr Söder.
Die Haft ist übrigens meiner Beobachtung nach so gut wie immer mit der Untersuchungshaft abgegolten, so denn sie nicht darüber hinaus geht. Zufällig kommen die Richter bei kleineren Delikten immer zu dem Schluss, die Tat sei eine Haftstrafe wert, welche exakt der Untersuchungshaft entspricht. Oder ein bisschen mehr, dann wird der Rest zur Bewährung ausgesetzt. Ich persönlich habe noch nie erlebt, dass ein Richter entschieden hat, die Strafe müsse kürzer sein als die bereits abgegoltene Untersuchungshaft. Der Gefangene müsste in diesem Falle nämlich eine Haftentschädigung bekommen (gemäß § 7 Absatz 3 StrEG beträgt die Entschädigung für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung derzeit 75 Euro). Die meisten Menschen sind einfach froh, wenn sie den Gerichtssaal als freier Mensch verlassen und legen deshalb keine Berufung ein. Ein Schelm, wer Böses denkt und den Richtern unterstellt, einige Urteile seien durch Kosteneinsparung oder gar Gesichtswahrung motiviert (man will ja auch ungern Fehler einräumen).
Zurück zu Herrn R., der leider kein Einzelfall blieb. Seit dem 23.04.2024 ist der Cannabiskonsum in Deutschland legal. Bis zum 01.04.2024 hat sich Söderland noch gewunden und gewehrt, aber am Ende gilt das deutsche Gesetz halt auch in Bayern. Versteht mich nicht falsch. Ich bin hier geboren und liebe mein Bundesland. Aber strafrechtlich ist das hier ein Irrenhaus. Besonders irritierend ist meine Beobachtung, dass seit der Cannabislegalisierung vermehrt Fälle wie die des Herrn R. auftreten. Redliche Bürger, die tatsächlich aufgrund der Menge von unter drei Gramm aus ihrem Alltag gerissen und in U-Haft gesteckt werden.
Ich denke nicht, dass Polizeiobermeister Hans und Richter Franz den Herrn R. aus tiefster persönlicher Überzeugung hinter Schloss und Riegel gebracht haben. Möglicherweise haben die beiden seit letztem Frühjahr selbst ihre drei Pflänzchen im Gewächshaus neben den Fleischtomaten kultiviert. Aber man hat halt so seine Dienstanweisungen.
Ich bin überzeugt, Herr R. schmort allein für Herrn Söders Ego bis zum Frühsommer in seinem neun Quadratmeter Betongrab. Denn von den Grünen können wir uns natürlich nicht unseren redlichen Bergstaat in den Abgrund treiben lassen, ja wo kommen wir denn da hin meinesehrverehrtendamenundherren!
Herrn R. nutzt das nichts. Er muss seiner Familie jetzt erklären, dass er im Gefängnis sitzt. Dass er kein Geld mehr schicken wird. Nie mehr. Denn er wird in kein anderes Programm mehr aufgenommen werden. Seiner Familie, die so stolz auf ihn war, als er vor sechs Jahren, einen Tag nach seinem sechzehnten Geburtstag, von zu Hause losgezogen ist, auf der Suche nach einem besseren Leben. Seiner Mutter, die so geweint hat, als er durch die Tür marschiert ist. Seinem Vater, der so stolz auf ihn war. Der allen Männern im Dorf von seinem Jungen in Deutschland erzählt hat. Er wird wohl wieder zurück nach Algerien gehen müssen, denn Deutschland hält nichts mehr für ihn bereit. Er wird als verurteilter Drogendealer in sein Dorf zurückkehren und hoffen müssen, dass wenigstens die ihm glauben, dass er seine Zukunft wegen nur einem Gramm Cannabis vor die Wand gefahren hat.
Ich fühle mich nicht gut. Ich habe das Bedürfnis mich zu entschuldigen. Für unsere Justiz. Für mein Bayern. Welches ich eigentlich so liebe.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney