Mein Patient in Haft steckt in einer aussichtslosen Lage – ich möchte helfen, bin aber machtlos. Warum er am Ende trotzdem lächelnd den Raum verlässt.
Manchmal gleicht meine Arbeit als Psychologin eher einem Tanz in einem dichten Nebel. Ich strecke die Hand aus, taste nach den Konturen der Seele, doch die wahren Bedürfnisse meiner Klienten bleiben verborgen, wie schemenhafte Gestalten im Zwielicht. Wie ein Dirigent vor einem verstimmten Orchester stehe ich dann oft da, den Taktstock meiner therapeutischen Methoden in der Hand.
Ich konfrontiere, strukturiere, decke auf, frage zirkulär – ich nutze all mein Werkzeug, um die richtigen Noten zu treffen. Doch dann, wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, die Frage: „Und was soll das jetzt gebracht haben?“ Bäm! Die Ernüchterung trifft mich wie ein kalter Schauer. Die Symphonie will sich einfach nicht fügen, die Harmonie bleibt aus, und es scheint, als spielten Psychologin und Klient in völlig verschiedenen Tonarten.
Und dann gibt es Momente wie diesen: Ein junger Tunesier, geboren um die Jahrtausendwende, steht vor mir. Seine Augen suchen Halt in meinem Blick. Aus seinen fahrigen Händen gleitet ein zerknittertes Stück Papier. „Brauche Papie“, flüstert er, seine Stimme rau wie trockenes Laub. „Muss Viersig Jahr Gefägnis. Aber Papie su Hause. Meimutter nur Whasaap.“
Wie ein Schiffbrüchiger, der sich an einen treibenden Baumstamm klammert, hält er dieses Papier fest, sein einziger Anker in einem Meer der Verzweiflung. Ich führe ihn in mein Büro: Ein Ort der Ruhe, ein paar Bilder an der Wand, gepolsterte Stühle. Ein Kontrast zu dem kalten, hallenden Gefängnisflur. Schon der kurze Weg, die wenigen Schritte, die er gehen muss, scheinen ihm etwas Ordnung in das Chaos seiner Gedanken zu bringen.
Er zeigt mir das Schreiben. Vierzig Jahre Haft drohen ihm in seiner Heimat, dem Land der glühenden Sonne und der duftenden Gewürze. Im fluoreszierenden Licht meines Büros entfaltet sich seine Geschichte wie ein zerknittertes Origami. „Zappzerap füfmal“, erzählt er, „keine Essen, dann Zappzerap.“ Das Wort, fremd und vertraut zugleich, malt Bilder von Hunger und Verzweiflung in meinen Kopf – gleichzeitig macht es mich ein bisschen wütend ob seiner Naivität, seiner Unvernunft. Als wüsste er nicht, was passiert.
Als kenne er die Gesetze seines eigenen Landes nicht. Als wäre er sich sicher, klüger zu sein als die tunesische Polizei. Es ist ein rhythmisches Wort, fast tänzerisch, kindlich und doch voll schwerer Bedeutung: Stehlen, Überleben, Hoffen. Der Begriff, der zugleich Verb und Substantiv in einem ist, stammt ursprünglich aus dem Sinti-/Roma-Milieu. Jeder im Gefängnis kennt es.
Ich versuche, die Scherben seiner Geschichte zu einem Mosaik zusammenzufügen. „Sie haben in Tunesien fünfmal geklaut, wurden zu vierzig Jahren Haft verurteilt, sind deshalb nach Deutschland geflohen und jetzt will die Ausländerbehörde Ihren tunesischen Haftbefehl.“ Mein Blick wandert zum Computerbildschirm. „Und hier haben Sie gleich nochmal geklaut und deshalb sind Sie jetzt bei uns?“ „I zuruckgegeben!“, platzt es aus ihm heraus. Es stimmt. Er hat der Frau die gestohlenen hundert Euro zurückgegeben. Ein Funken Reue inmitten der Dunkelheit. Trotzdem dumm.
Wir drehen uns im Kreis, verstrickt in einem Netz aus Gesetzen und Verzweiflung. Ich kann ihm nicht helfen, seine Probleme sind nicht psychologischer Natur. Der Sozialarbeiter ist bereits eingeschaltet.
Unbefriedigend. Ich muss ihn zurückschicken, andere warten. Doch als ich die Tür hinter ihm schließe, dreht er sich noch einmal um. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht. „Danke“, sagt er.
Warum ist er so zufrieden? Es war kein gutes Gespräch. Es war eigentlich überhaupt kein Gespräch. Ich habe ihm zugehört, mir ein Bild von seiner Situation gemacht und ihm dann mitgeteilt, dass ich ihm nicht helfen kann.
Vielleicht war es der kurze Spaziergang, die Möglichkeit, seine Geschichte zu erzählen, der Moment der Ruhe inmitten des Sturms. Vielleicht habe ich ihn, ohne es zu wollen, an seine Mutter erinnert, an das Gefühl von Geborgenheit und Wärme.
In meiner Dokumentation notiere ich es als „stützendes Gespräch“. Das klingt nüchtern, fast bürokratisch und fast ein wenig beschönigend. Aber ich glaube, das ist es manchmal, was die Menschen hier wirklich brauchen: nicht Lösungen, nicht Antworten, sondern einfach jemanden, der da ist, für einen Moment, wie ein stiller Hafen in einem aufgewühlten Meer.
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