Bei Diabetikern kann die tägliche Einnahme von Aspirin Bauspeicheldrüsenkrebs verhindern. Das finden zumindest die Autoren einer neuen Studie – doch wie klar ist das Ergebnis?
Wenn es um die Chemoprävention von Krebs geht, ist vor allem eine Substanz immer wieder in aller Munde: Aspirin. Zahlreiche Studien, Reviews und Metaanalysen fanden deutliche Hinweise darauf, dass eine Dauereinnahme des bewährten Kopfschmerzmittels sowohl seltener Krebs entstehen lässt als auch seltener zum Tod durch Krebs führt. Das gilt besonders für Tumore des Verdauungstrakts wie Speisröhren-, Magen- und Darmkrebs.
Weniger klar ist die Wirkung auf den Bauchspeicheldrüsenkrebs. Da es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Diabetes und einem erhöhtem Pankreaskarzinomrisiko gibt, könnten womöglich zumindest Diabetiker von Aspirin profitieren. Das gilt vor allem für frisch diagnostizierten Diabetes, weil das Krebsrisiko in den ersten zwei bis drei Jahren nach der Diagnose besonders hoch ist.
Nun ist eine in der Zeitschrift Gut veröffentlichte Studie von Medizinern der Hong Kong University genau dieser Frage nachgegangen: Kann die langfristige Einnahme von Aspirin das Pankreaskrebs-Risiko bei neu diagnostizierten Diabetikern senken? Dafür analysierten sie die Daten von knapp 350.000 Patienten mit einer durchschnittlichen Nachbeobachtungszeit von gut 10 Jahren. Das Ergebnis: Aspirin senkt das Pankreaskrebsrisiko um 42 %, die Krebssterblichkeit um 57 %. Der Effekt korreliert zudem lehrbuchmäßig mit Dosis und Einnahmedauer. Bemerkenswert sei auch, so die Autoren, dass Aspirin unabhängig von Alter, Geschlecht, BMI, Rauchen und Blutzuckerkontrolle vor dem Tumor schützt.
Soll das Wundermittel Aspirin also künftig bei allen Diabetikern auf dem Speiseplan stehen? Eher nein. Zum einen ist die Studie lange nicht so geradlinig, wie die Ergebnisse suggerieren. Zum anderen ist die Einnahme von Aspirin, wie jede potenziell wirksame medizinische Maßnahme, nicht zum Nulltarif zu haben – Nebenwirkungen sind immer eingepreist. Die Schlussfolgerung der Autoren, vielleicht eine potenzielle Krebspräventionsstrategie gefunden zu haben, kann man mit den beiden Einschränkungen „vielleicht“ und „potenziell“ so stehen lassen. Mehr gibt die Studie aber nicht her.
Beim Lesen der Studie springt ins Auge, wie ausschweifend die Autoren gerechnet haben – sie haben die nackten Zahlen gründlich durch den statistischen Fleischwolf gedreht. Das mag bei retrospektiven Kohortenstudien auch angebracht sein, um wenigstens halbwegs belastbare Ergebnisse zu erhalten. In diesem Fall aber scheint es fast so, als wäre der Nutzen herbeigerechnet. Ein Beispiel: Von den 43.757 Aspirin-Nutzern starben im 10-jährigen Untersuchungszeitraum 119 an Bauspeicheldrüsenkrebs, das sind 0,27 %. Von den 300.209 Nicht-Nutzern starben 668, das sind 0,22 %. Man lese und staune: Es starben verhältnismäßig weniger Nicht-Nutzer als Nutzer.
Den absoluten Zahlen zufolge würde Aspirin also nicht vor dem Tumor schützen, sondern ihn sogar fördern. Das muss allerdings noch nicht viel heißen, schließlich können sich die Vergleichsgruppen in nicht-randomisierten Studien deutlich unterscheiden und Ergebnisse folglich in die Irre führen. Danach sieht die lange Liste der Charakteristika mit persönlichen Daten, Komorbiditäten und Medikationen aber eigentlich nicht aus. Sozioökonomische Daten haben die Datenbanken allerdings nicht erfasst.
Erst wenn die Autoren gezielt Probanden auswählen, um die beiden Gruppen vergleichbarer zu machen (propensitiy-score-matched), drehen sich die Verhältnisse um. Auf die Endergebnisse kommen die Autoren, wenn sie, um einen sogenannten immortal time bias zu vermeiden, den Aspirin-Gebrauch als „Zeit-variable Größe modellieren“ sowie weitere Parameter einrechnen.
Ein zweiter Aspekt, der das Ergebnis in matterem Licht erscheinen lässt, ist die Art des Nutzens. Wenn die Autoren schreiben, dass die Pankreaskarzinomsterblichkeit dank Aspirin um 57 % sinkt, meinen sie den relativen Nutzen, oder die relative Risikoreduktion. Mit „relativ“ ist nicht die Prozentangabe gemeint, sondern der Nutzen im Verhältnis zu den Krebstoten, die kein Aspirin eingenommen haben. Doch die letztlich relevantere Größe ist der absolute Nutzen. Das ist der Nutzen im Verhältnis zu allen Behandelten, das heißt im Verhältnis zu all jenen, die Aspirin eingenommen haben.
Dann sieht das Ergebnis gleich nicht mehr so spektakulär aus: Angenommen, die Berechnungen der Autoren sind korrekt und Aspirin verhindert tatsächlich die Hälfte der Todesfälle. Dann würden von rund 300.000 Diabetikern nicht gut 600 an Bauspeicheldrüsenkrebs sterben, sondern 300. Der absolute Nutzen, oder die absolute Risikoreduktion, wäre also 0,1 %. Oder anders ausgedrückt: 1.000 Diabetiker müssten 10 Jahre lang Aspirin schlucken, damit 1 nicht an Bauspeicheldrüsenkrebs stirbt. Dieser 1 nimmt die Nebenwirkungen von Aspirin sicher gerne in Kauf. Die restlichen 999 müssen jedoch mit denselben Nebenwirkungen klarkommen, ohne dass sie etwas davon haben.
Zur Ehrenrettung der Autoren sei gesagt, dass der relative Nutzen primär ein Maß für die Effektivität einer Maßnahme ist, und deshalb für eine Veröffentlichung in der Fachliteratur die üblicherweise genannte Größe. Für die Versorgung ist jedoch der absolute Nutzen entscheidend, weil man mit ihm besser abschätzen kann, ob sich eine Maßnahme „lohnt“. Weil er primär ein Maß für die Häufigkeit einer Erkrankung ist, fällt er bei einer seltenen Erkrankung wie dem Bauspeicheldrüsenkrebs zwangsläufig klein aus.
Grundsätzlich gilt: Je seltener eine Erkrankung ist, desto mehr Gesunde erwischt man mit einer Präventionsmaßnahme und desto weniger lohnt sie sich, egal, wie effektiv sie das Krankheitsrisiko senken kann. Dieses Problem ist der große Pferdefuß aller Präventionsmaßnahmen – ob nun zur Primärprävention, um eine Krankheit zu verhindern, oder zur Sekundärprävention, um eine Krankheit früh zu erkennen.
Entsprechend zurückhaltend sind auch die Empfehlungen zur präventiven Einnahme von Aspirin. Selbst bei den Tumorarten, die weit häufiger als der Bauchspeicheldrüsenkrebs sind und bei denen der Nutzen von Aspirin in Studien sicher nachgewiesen ist, wird von einer Einnahme abgeraten. So empfehlen alle drei Leitlinien zu Ösophagus-, Magen- und Darmkrebs den vorsorglichen Konsum von Aspirin nicht.
Woher die Zurückhaltung kommt, liegt auf der Hand: Aspirin hat auch seine dunklen Seiten, es schlägt beispielsweise auf den Magen. So heißt es in der Leitlinie zur gastroduodenalen Ulkuskrankheit, dass die Einnahme von Aspirin die Magen- und Darmschleimhaut angreift und so die Ulkuskrankheit und andere Folgeerkrankungen begünstigt.
Auch die brandneue S3-Leitlinie Exokrines Pankreaskarzinom vom September 2024 will von Aspirin als Präventionsmaßnahme nichts wissen: „Eine medikamentöse Prophylaxe zur Verminderung des Pankreaskarzinomrisikos ist derzeit nicht bekannt.“ Die Leitlinie nennte zwar Diabetes mellitus als Risikofaktor für Bauchspeicheldrüsenkrebs, doch im Kapitel zu Prophylaxe und Prävention bei Risikopatienten geht es dann nicht um Diabetiker, sondern ausschließlich um familiär belastete Patienten.
Was soll man also jetzt mit den Ergebnissen der Studie aus Hong Kong anfangen? Einen weisen Rat zum Umgang mit Aspirin gibt die aktualisierte S3-Leitlinie zum Magenkarzinom, die derzeit als Konsultationsfassung vorliegt: „Aktuell kann eine alleinige Indikation für die Gabe von ASS zur Prävention nicht gegeben werden. Allerdings ist eine Einnahme aufgrund anderer Gründe mit hoher Wahrscheinlichkeit als Benefit für die Prophylaxe des Magenkarzinoms zu werten, sodass die Medikation nicht beendet werden sollte.“ Mit anderen Worten: Aspirin zu schlucken, um Magenkrebs vorzubeugen, lohnt nicht. Aber wenn man Aspirin ohnehin nimmt, kann man sich über das verringerte Magenkrebsrisiko freuen. Und wer Diabetes hat, senkt vielleicht auch sein Risiko für Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Bildquelle: Brecht Deboosere, unsplash