Bis zu 80 Prozent aller Patienten leiden nach einer Amputation an Phantomschmerzen. Wie kommt es dazu – und was könnt ihr dagegen tun?
Pro Jahr führen Ärzte knapp 60.000 Amputationen der unteren Extremitäten durch. Das liegt oft an Diabetes mellitus, an der arteriellen Verschlusskrankheit oder an Krebs. Deutlich seltener sind mit etwa 3.500 bis 4.000 Fällen pro Jahr Amputationen der oberen Extremitäten, oft als Folge von Unfällen. Schätzungen zufolge leiden etwa 50 bis 80 % dieser Patienten danach an Phantomschmerzen. Solche Empfindungen können auch nach einer Brustamputation, einer Zahnextraktion oder nach der Exstirpation eines Auges auftreten.
Schmerzempfinden in einem Körperteil, der nicht mehr existiert, hat erstmals Ambroise Paré (1510–1590) beschrieben. Er war Arzt beim französischen Militär und musste oft Gliedmaßen verletzter Soldaten amputieren. Die Sterblichkeit war ohne Anästhesie, ohne Asepsis und ohne Antisepsis hoch. Doch einige Patienten überlebten die Tortur und Paré war über Beschwerden Monate nach der Heilung mehr als erstaunt.
Silas Weir Mitchell (1829–1914), ein US-amerikanischer Neurologe, schrieb Jahrhunderte später über das „Phantomglied“ („phantom limb“). Er vermutete, dass Schmerzen durch verbleibende Nervenenden im Amputationsstumpf verursacht würden. Seine Hypothese war nach heutigem Stand nur teilweise korrekt.
Ein Blick auf Details: Phantomschmerzen können unmittelbar nach der Amputation auftreten, aber auch erst Wochen, Monate oder sogar Jahre später einsetzen. Patienten beschreiben die Missempfindungen als brennend, kribbelnd, stechend, krampfartig oder elektrisierend. Solche Beschwerden können in unregelmäßigen Abständen oder dauerhaft vorhanden sein. Sie schränken die Lebensqualität immens ein.
Patienten, die vor der Amputation bereits an Schmerzen in der betroffenen Gliedmaße litten, haben ein erhöhtes Risiko, Phantomschmerzen zu entwickeln. Auch nach Amputationen, die näher am Rumpf durchgeführt werden (proximale Amputationen), kommt es häufiger zu Phantomschmerzen.
Wie erkennen Ärzte Phantomschmerzen?
Bei der Diagnose steht ein ausführliches Anamnese-Gespräch im Mittelpunkt, spezifische Tests gibt es nicht. Um die Schmerzen zu bewerten, kommen die visuelle Analogskala und verschiedene Scores zum Einsatz. Eine klinische Untersuchung des Amputationsstumpfs soll helfen, um andere Ursachen wie Neurome, neuropathische Schmerzen, Überempfindlichkeit, Infektionen, Durchblutungsstörungen, Druckstellen oder Narben auszuschließen. Stumpfschmerzen können auch zusammen mit Phantomschmerzen auftreten. In einigen Fällen verstärken sie sich gegenseitig. Da Phantomschmerzen häufig mit Stress, Angst oder Depression verbunden sind, lohnt sich bei Patienten auch eine psychologische oder psychiatrische Bewertung.
Forscher haben längst nicht alle Mechanismen, die Phantomschmerzen auslösen, verstanden. Dennoch existieren verschiedene Modelle, die von tierexperimentellen und klinischen Daten gestützt werden. Bei einer Amputation werden Nerven durchtrennt. Sie versuchen, sich zu regenerieren, indem sie neu aussprossen. Gelingt es ihnen nicht, einen neuen Zielort zu finden, bilden sie Wucherungen aus Nerven- und Narbengewebe. Diese Neurome können spontan oder bei Berührung unkontrollierte Nervenimpulse aussenden, die das Gehirn als Schmerz aus dem amputierten Körperteil interpretiert.
Darüber hinaus kommt es nach der Amputation einer Gliedmaße im Gehirn zu komplexen Veränderungen, die als kortikale Reorganisation bezeichnet werden. Vor allem die sensorischen und motorischen Areale des Gehirns, die zuvor für die amputierte Gliedmaße zuständig waren, sind betroffen. Im somatosensorischen Kortex, der afferente Reize aus verschiedenen Körperteilen verarbeitet, bleibt der Bereich, der für die amputierte Gliedmaße zuständig war, nach der Amputation ohne Eingangssignale. Benachbarte Hirnregionen, die für andere Körperteile zuständig sind, übernehmen die Kontrolle über den Bereich. Solche Umorganisationen bringen Forscher mit einer verstärkten Schmerzwahrnehmung in Verbindung.
Visuelle Darstellung von Regionen im somatosensorischen Kortex („kortikaler Homunkulus“), die Reize aus verschiedenen Körperteilen verarbeiten. Credit: OpenStax, Popadius/Wikimedia Commons, CC BY 3.0
Die Neuromatrix-Theorie wiederum beschreibt Phantomschmerzen als Folge einer komplexen neuronalen Aktivität im Gehirn, unabhängig von sensorischen Signalen aus dem amputierten Körperteil. Laut Modell existiert im Gehirn eine Neuromatrix: ein Netzwerk von Nervenzellen, das den Körper als Ganzes repräsentiert. Nach einer Amputation bleibt dieses neuronale Muster erhalten und kann weiterhin Schmerzen oder Empfindungen aus der fehlenden Extremität erzeugen. Nicht zuletzt spielt das Rückenmark eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Verstärkung von Phantomschmerzen, da es als Vermittler zwischen peripheren Nerven und dem Gehirn fungiert.
Von der Theorie zur Praxis: Generell sind Schmerzen vor oder nach einer OP Risikofaktoren für eine Chronifizierung dieser Beschwerden. Eine intra- und postoperative Schmerztherapie kann die Wahrscheinlichkeit für Phantomschmerzen verringern. Auch scheint perioperativ verabreichtes Esketamin wirksam zu sein. Darüber hinaus kann eine frühe Versorgung mit Prothesen das Auftreten von Phantomschmerzen vermindern. Und nicht zuletzt nimmt ein ausführliches Gespräch weit vor dem Eingriff Patienten ihre Angst vor Phantomschmerzen und stärkt ihr Verständnis.
Die Behandlung von Phantomschmerzen gilt als Herausforderung. Einheitliche Konzepte existieren nicht; die Datenlage ist in vielen Fällen schlecht. Haben Ärzte andere Ursachen wie Stumpfschmerzen oder Neurome ausgeschlossen, können sie einen Versuch mit Gabapentin bzw. mit trizyklischen Antidepressiva wagen. Bei Opioiden, die manche Experten befürworten, besteht mittelfristig die Gefahr einer Toleranzentwicklung.
Recht spektakuläre Erfolge haben Ärzte teilweise mit der Spiegeltherapie erzielt. Sie nutzt das Prinzip der visuellen Illusion, um das Schmerzempfinden zu beeinflussen und die Reorganisation neuronaler Strukturen zu beschleunigen.
Eine Spiegeltherapie gegen Phantomschmerzen. Credit: Wikimedia Commons/US-Verteidigungsministerium, CC0
Dabei sitzt der Patient vor einem Spiegel, der so positioniert ist, dass die gesunde Extremität gespiegelt wird und anstelle der amputierten Gliedmaße erscheint. Das Gehirn erhält also visuelle Informationen mit der Illusion eines vollständigen Körpers. Macht ein Patient beispielsweise mit dem gesunden Bein Übungen, nimmt das Gehirn diese Bewegungen wahr, als ob die fehlende Extremität ebenfalls bewegt würde. Ziel ist, die fehlende sensorische Repräsentation von Gliedmaßen im Gehirn zu korrigieren, die für Phantomschmerzen mitverantwortlich sind. Dies lässt sich auch mit virtueller Realität (VR) umsetzen. Manche Forscher gehen davon aus, dass das frühe Tragen von Prothesen ebenfalls zur schnelleren neuronalen Reorganisation beiträgt.
Auch die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) kann zur Linderung von Phantomschmerzen beitragen. Sie nutzt elektrische Impulse, die über Elektroden auf der Haut in das Nervensystem geleitet werden, um Schmerzsignale zu modulieren und das Schmerzempfinden zu verringern.
Chirurgische Eingriffe sind meist sinnvoll, wenn konservative Therapien nicht ausreichen. Bei der RPNI-Technik (Regenerative Peripheral Nerve Interface) wird das durchtrennte Nervenende in ein kleines Muskeltransplantat eingenäht, um das unkontrollierte Wachstum von Nervenfasern zu verhindern. Diese Technik wird oft in Kombination mit TMR (Targeted Muscle Reinnervation) durchgeführt. Sie bietet durchtrennten Nerven eine neue funktionelle Verbindung, indem diese gezielt in nahegelegene Muskeln umgeleitet und dort chirurgisch mit motorischen Nervenfasern verbunden werden. Ähnliche Ziele verfolgt die Targeted Sensory Reinnervation (TSR). Hier werden durchtrennte sensorische Nerven in ein neues Gewebe umgeleitet
Kurze Zusammenfassung für Eilige
Quellen
Hanyu-Deutmeyer et al.: Phantom Limb Pain. StatPearls Publishing, 2023. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK448188/
Lorbeer et al.: Phantomschmerzen: Gegenwärtige Behandlungsstrategien. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date, 2024. doi: 10.1055/a-2177-7974
Mosch et al.: Phantomschmerz – Therapie. VPT Magazin, 2024. doi: 10.1055/s-0044-1786243
Wilms: Epidemiologische Studie zur Entstehung von Phantomschmerzen nach Amputationen an der oberen Extremität. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin, 2008.
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