Beim allgegenwärtigen Alkohol könnten strengere Regulierungen bald den Umgang erschweren. Welche Konsequenzen das für die medizinische und pharmazeutische Versorgung hätte, lest ihr hier.
Während der Pandemie war Ethanol einer der Helden der Infektionskontrolle. Der Alkohol wird im Bereich Gesundheit außer zur Desinfektion auch für die Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln, Medizinprodukten und In-Vitro Diagnostika genutzt. Die geplante Verschärfung seiner Gefahreneinstufung durch die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) könnte die Verfügbarkeit und den Einsatz wegen Arbeitsschutzregelungen als Haupt- oder Hilfswirkstoff stark einschränken oder sogar verbieten.
Ethanol ist jedoch kaum noch wegzudenken – ethanolhaltige Desinfektionsmittel gehören zum Alltag. Sie töten Bakterien ab, indem sie die Proteine in ihrer Zellwand denaturieren und machen unbehüllte Viren wie Polioviren und Pilze unschädlich. Mit anderen Wirkstoffen sind diese oft schwieriger zu bekämpfen. Während der COVID-19-Pandemie hat sich Ethanol besonders bewährt, weil es schnell verfügbar war und eine breite Wirkung gegen das behüllte Virus SARS-CoV-2 zeigte.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält ethanolhaltige Händedesinfektionsmittel für unverzichtbar. Die Produkte wirken gegen viele multiresistente Erreger und hinterlassen dabei keine kritischen Rückstände. Ethanol verdunstet schnell, hinterlässt keinen Film und ist geruchsneutraler als beispielsweise Isopropanol.
Für die Herstellung von Arzneimitteln ist Ethanol oft essenziell. Das betrifft vor allem Phytopharmaka mit pflanzlichen Extrakten. Ethanol löst die für die Wirksamkeit wichtigen Bestandteile aus dem pflanzlichen Material, stabilisiert sie und schützt sie vor mikrobiellen Verunreinigungen. Codein-Sirup enthält z.B. Ethanol, da er hilft, schwer lösliche Wirkstoffe homogen zu verteilen.
Bei der Herstellung von Injektionslösungen mit schwer löslichen Substanzen wie Diazepam sorgt Ethanol nicht nur für die Löslichkeit, sondern verhindert auch Ausfällungen während der Lagerung. Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung von Ethanol für die Pharmazie ist Paclitaxel, ein Chemotherapeutikum, das in wasserfreien ethanolischen Lösungen gelöst wird. Topisch angewendet zeigt Ethanol eine doppelte Wirkung: Es kühlt die Haut und transportiert Wirkstoffe ins Gewebe.
Außer zur Infektionsprävention und in der pharmazeutischen Industrie brauchen Fachkräfte Ethanol auch in der Diagnostik: In der Histologie wird es zur Dehydratisierung von Gewebeproben eingesetzt, bevor diese in Paraffin eingebettet werden. Zudem dient es zur Reinigung empfindlicher Laborgeräte, da es selbst kleinste organische Rückstände effektiv entfernt.
Die mögliche Einstufung als reproduktionstoxisch und/oder krebserzeugend – Kategorie 2 oder sogar der höchsten Gefahrenkategorie 1 („Cancerogen Mutagen Reprotoxic“, kurz: CMR) – durch die ECHA könnte zukünftig den Einsatz von Ethanol erheblich einschränken. Bei der Einstufung als reproduktionstoxisch mit Wirkung auf/durch Laktation dürften beispielsweise nach deutschem Arbeitsrecht viele Frauen nicht mehr mit dem Alkohol arbeiten.
Das würde nicht nur die Herstellung, sondern auch die Anwendung vieler Präparate erschweren. Dokumentationspflichten, höhere Anforderungen an den Arbeitsschutz und die Lagerung könnten die Herstellung von Rezepturen und Defekturen in Apotheken noch unpraktikabler machen.
Verschiedene Verbände, darunter der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI), der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed), der Industrieverband Hygiene & Oberflächenschutz (IHO) und der Verband der Diagnostica-Industrie (VDGH), warnen vor der neuen Einstufung. Denn bei vorschriftsmäßiger dermaler Exposition, beispielsweise durch Desinfektionsmittel, gehen keine nennenswerten Mengen Ethanol in den Blutkreislauf über.
Von der ECHA herangezogene Daten zum Gefährdungspotential basieren in erster Linie auf der missbräuchlichen oralen Aufnahme. Diese Risiken sind jedoch im medizinischen Kontext bei sachgemäßem Umgang nicht relevant.
Die Frage ist, warum das Risiko von Ethanol auf Basis der oralen Aufnahme bewertet wird, obwohl es vor allem äußerlich und in kontrollierten Anwendungen genutzt wird. Die neuen Regularien könnten am Ende mehr schaden als nutzen. Selbst wenn Ethanol als CMR-Stoff mit Ausnahmen zugelassen würde, wäre der damit verbundene regulatorische Aufwand enorm. Konformitätsprüfungen und Rechtfertigungsverfahren könnten die Hersteller stark belasten und die Verfügbarkeit von Produkten einschränken.
Ersetzen ließe sich Ethanol auch nicht immer und in allen Bereichen. Methanol ist hochtoxisch und viele synthetische Alternativen sind teurer oder belasten die Umwelt stärker, da sie schlechter biologisch abbaubar sind. Die Produktion von Ethanol ist kosteneffizient und skalierbar – bei Alternativen ist das meist (noch) nicht der Fall. Die Suche nach geeigneten Ersatzstoffen könnte Jahre dauern.
Eine überstürzte Regulierung könnte nicht nur die Life Science-Branche belasten, sondern auch die Versorgungssicherheit gefährden. Das wäre besonders tragisch, da die Versorgung der Patienten bereits seit einigen Jahren durch diverse Lieferengpässe erschwert ist.
Anstatt Ethanol pauschal als gefährlich einzustufen, könnten also spezifische Schutzmaßnahmen eingeführt werden, die auf die jeweilige Anwendung zugeschnitten sind. Zum Beispiel könnte der Einsatz in geschlossenen Systemen oder die Vergällung in der Hygiene stärker geregelt werden. Positiv wäre allein, wenn durch die neue Einstufung Anreize entstehen würden, nach umweltfreundlicheren und noch wenige risikoreichen Alternativen zu suchen.
Bildquelle: Ali Kokab, Unsplash