Ein junger Patient ist im Status epilepticus und die Zeit drängt. Ich entscheide mich gegen die Leitlinie – und rette damit ein Leben. Doch statt Beifall ernte ich einen bitteren Shitstorm der Kollegen.
Der Rettungswagen bremst vor der Adresse, das Fahrwerk quietscht, die Karosserie schaukelt nach. Der Motor läuft im Standgas weiter. Irgendein Bürger wird sich sicher wieder darüber aufregen, dass wir die Umwelt verschmutzen und nur Lärm machen – bis er selbst mal Hilfe benötigt und es nicht schnell genug gehen kann.
Mein Kollege Georg und ich steigen aus, die Luft riecht nach Herbst und schmeckt irgendwie nach altem Staub. Da sitzt er, der 19-Jährige – sein Körper angespannt wie eine Feder – auf der zweiten Stufe eines Treppenabsatzes vor dem Eingang des Hauses. Sein Blick ist leer und geht hin und her, die Hände zittern. Neben ihm steht sein Vater, den ich kaum ansehe, weil ich weiß, dass ich dort nur Angst und Verzweiflung finde.
Ich erkenne, dass ein Grand-Mal-Anfall kurz bevorsteht. Wenn das Szenario eintritt, haben wir hier im Treppenhaus schlechte Karten. Georg und ich packen den Jungen links und rechts unter den Armen, und ab in den Rettungswagen. Er lacht, als sei er nicht bei Sinnen, wankt wie betrunken und redet wirr – aber wir kriegen ihn auf die Trage und können die Gurte anlegen. Der Körper will sich dem Widerstand entziehen, aber wir sind schneller.
Ein Schweißfilm überzieht seine Stirn. Seine Brust hebt und senkt sich zu schnell, wie ein Motor, der kurz vorm Überdrehen ist. Der Kopf wirft sich hin und her. Die Augen sind weit aufgerissen. „Er braucht viel“, sagt der Vater. „Beim letzten Mal ... schlimm.“ Auch der Begriff Intubation kommt vor. Die Worte reißen ab, aber ich verstehe sie trotzdem. Sie hängen in der Luft, schwer wie die Stille vor einem Sturm. Der Junge zittert. Ich sitze am Begleiterstuhl, die rosafarbene Braunüle gleitet durch die Haut, das Gefühl vertraut, mechanisch. Gerade, als ich den Zugang fixiert habe, explodiert sein Körper. Arme und Beine schlagen aus, der Kopf wirft sich nach hinten. Der Grand-Mal – er ist da.
Meine Gedanken fliegen durcheinander. Der Junge schüttelt sich, atmet nicht. Wäre er nicht angeschnallt, fiele er von der Trage. Die Sättigung sinkt; Hirnzellen gehen in diesem Moment drauf. Georg reicht mir die Spritze mit dem Midazolam, denn Lorazepam haben wir zur i.v.-Gabe nicht. Ich gebe es dem Jungen in die Venen – keinerlei Reaktion. Die Leitlinien sehen eine Wiederholung bis zu 0,2 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht vor – das wären in diesem Fall 16 Milligramm. Er hat viel gebraucht, geht mir durch den Kopf. In diesem Moment fallen mir aber einige Einsätze ein, bei denen wir geben konnten, was wir wollten, der Patient jedoch erst nach Gabe von Propofol oder Thiopental das Krampfen einstellte. Das bisschen Midazolam macht vor meinem geistigen Auge plötzlich keinen Sinn mehr. Wenn wir damit weitermachen und den Wirkungseintritt abwarten, verschenken wir Zeit.
Diese Zeit hat der Patient aber nicht, denn bei prolongierten Anfällen zählt jede Minute: Das Risiko für neuronale Schäden steigt mit der Anfallsdauer. Aber die Leitlinien … erst mehrfach Midazolam, dann Levethir, dann erst Propofol. Die Menge an Levethir an Bord unseres Rettungswagens reicht niemals aus. Wir haben nur 1.000 Milligramm Levethir dabei, aber der Junge braucht bei seinem Gewicht die höchste Dosis von 4.500 Milligramm. Das fällt also aus, da Levethir unterdosiert überhaupt keinen Sinn macht. Mit Levethir habe ich dazu persönlich noch nie gearbeitet, jedoch aufgrund meiner Arbeit in der Anästhesie oft genug und selbstständig mit Propofol. „Zieh mir eine Ampulle Propofol auf“, sage ich zu meinem Kollegen, der das Ampullarium bereits vor sich liegen hat und unmittelbar reagiert. In diesem Moment existieren keine Lehrbücher mehr, sondern nur noch die pure Notfallmedizin.
Ich entscheide mich für Propofol – nicht, weil es dem Algorithmus entspricht, sondern weil meine Erfahrung mir sagt, dass es anders schlichtweg nicht geht. Ich greife nach der Spritze und drücke den Kolben hinunter. Die milchige Flüssigkeit strömt in die Vene, 100 Milligramm. Es wird besser, aber der Junge krampft noch immer. Also 50 weitere Milligramm.
Die Zuckungen hören auf, das Chaos im Körper bricht ab, der Junge sinkt zurück. Seine Atmung wird ruhiger, die Werte stabilisieren sich. Ich drehe den Jungen auf die Seite. Im Inneren des Rettungswagens herrscht Stille, aber draußen höre ich was. Es ist der längst nachgeforderte Notarzt, der die Schiebetür aufzieht. Die Übergabe: Blutdruck bei 118 zu 78, Frequenz bei 85 Schlägen pro Minute, rhythmisch. Sättigung 97 Prozent. Besser könnte der Zustand des Patienten nicht sein. Wir haben ihn gerettet – fürs erste.
Später wird man mich vor den Pranger der Gesellschaft zerren, mich für diesen Einsatz an die Wand stellen. Der Einsatz wurde im Fernsehen ausgestrahlt: Ein Kamerateam begleitete den nachgeforderten Notarzt an diesem Abend. Beim Betreten des Rettungswagens signalisierte dieser mir noch, wir sollten das Team hinter ihm am besten einfach ignorieren. Mir fiel das nicht schwer. Ich bin die Medien aufgrund verschiedener Umstände gewöhnt und fühlte mich durch das hochprofessionelle Kamerateam auch nicht gestört. Aber dass dieser Einsatz solche Kreise ziehen würde, war mir nicht klar.
Ich bekam den vollen Shitstorm ab – weil einfach niemand weiterdenkt, als es sein Algorithmus zulässt. Das Rechtsverständnis der spottenden Notfallsanitäter ist insgesamt verheerend. Trotz eindeutiger Kommentare renommierter Rechtsanwälte und einem bayerischen Leitsatzverfahren wird fast ausschließlich über anonyme Messenger auf mich gefeuert: Ein „Aberkennen“ meiner „Notfallsanitäterurkunde“ soll geprüft werden, obwohl ich eine akute Lebensgefahr abgewendet habe.
Auch nach der „Drobeck“-Entscheidung und einer saftigen Schelle für den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst (ÄLRD) Landshut ist weiterhin von Medikamenten und Therapien die Rede, die für Notfallsanitäter „nicht freigegeben“ sein sollen – ein ÄLRD kann jedoch weder verbieten noch explizit gestatten. Die ÄLRD werden fälschlicherweise als Legislative angesehen, was sie vermutlich gerne wären, es aber nun mal nicht sind. § 4 Absatz 2 Satz 2c NotSanG wird über 2a NotSanG gestellt, was der Normenhierarchie widerspricht („Lex superior derogat legi inferiori“).
„Außerdem sind 2c-Algorithmen, wenn anwendbar, zwingend durchzuführen“, was auch Quatsch ist, denn schon der Bundesrat hat ausgeführt, dass es sich bei Anwendung delegierter Maßnahmen („2c-Maßnahmen“) gerade eben nicht um eine Notfallsituation handeln kann. Man möchte brechen. So viel Unsinn lese ich selten, und das abgefeuert von Leuten, die die dreijährige Ausbildung zum Notfallsanitäter durchlaufen haben.
Ein kleiner Nebenkriegsschauplatz an dieser Geschichte ist die Tatsache, dass die Notfallsanitäter von heute gar nicht mehr lernen, über den Tellerrand zu sehen. Das ist möglicherweise auch der Grund, wieso diese Angriffe gegen meine Person stattgefunden haben. Die Auszubildenden lernen Algorithmen, bekommen aber nicht das notwendige Gespür für die Poesie individueller Entscheidungen. Das ist schade, denn ein Algorithmus ist wie eine Straßenkarte: perfekt für die Normalität, aber nutzlos in der Ausnahme.
Taucht eine Straßensperre auf, ist derjenige aufgeschmissen. Algorithmen sind wichtig, aber sie dürfen niemals die Intuition und Erfahrung ersetzen, wo ein Blick, eine Bewegung, ein Gefühl mehr bedeuten als tausend ausgedruckte Handlungsanweisungen und dem dogmatischen Festhalten an ihnen. Dreißig Jahre im Rettungsdienst haben mich eines gelehrt: Jeder Patient und jede Situation sind anders. Für sie brauchen wir selbstdenkende und individuell endscheidende Notfallsanitäter, und keine Gesundheitsbürokraten. Unsere Ausbildungen müssen wieder mehr Raum schaffen für dieses intuitive Verständnis.
Diese Geschichte hat Dreck unter den Nägeln, aber dem Jungen geht’s gut. Ein kurzer Blick vor der Übergabe im Schockraum, dann wieder zurück zum Rettungswagen und diesen einsatzklar machen. Der junge Mann wird es überleben – nicht wegen eines Algorithmus, sondern wegen einer Entscheidung jenseits der Routine.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney