Mit dem Ruf der Tonsillektomie geht es seit Jahren bergab. Nun steht sie auch noch im Verdacht, das Risiko für PTBS zu erhöhen. Was ist dran?
Für Eilige gibt’s am Ende eine kurze Zusammenfassung.
Ärzte entscheiden sich immer seltener für Tonsillektomien. In 2010 gab es bundesweit noch 83.414 Tonsillektomien ohne Adenotomie und 29.815 Tonsillektomien mit Adenotomie. In 2019 waren es nur noch 39.293 bzw. 8.990 dieser Eingriffe. Gleichzeitig ist die Zahl der Tonsillotomien, sprich der teilweisen Entfernung der Gaumenmandeln, deutlich angestiegen (2010: 8.783 versus 2019: 20.129).
Dieser Trend zeigt, dass Ärzte immer zurückhaltender sind, wohl aufgrund einer kritischeren Bewertung und aufgrund neuer Empfehlungen.
So rät die S3-Leitlinie „Therapie der Tonsillo-Pharyngitis“ nur zur OP, falls sich Halsschmerzen häufen:
Werden diese Zahlen nicht erreicht, empfehlen die Autoren eine Wartezeit von 6 bis 12 Monaten für die weitere Bewertung.
Bei Kindern bis zum 15. Lebensjahr gelten Halsschmerzen als relevant, wenn sie von Fieber (oral über 38,3 °C), einem Tonsillenexsudat, druckschmerzhaften Halslymphknoten oder von Gruppe A beta-hämolysierenden Streptokokken (GABHS) begleitet werden.
Handelt es sich um Patienten über 15 Jahren, bewerten die Autoren Halsschmerzen als relevant, wenn sie klar durch eine akute Tonsillitis verursacht werden und Patienten in ihrem Alltag einschränken.
Dass eine gewisse Zurückhaltung bei Tonsillektomien angebracht ist, um mögliche Folgen zu vermeiden, zeigen viele Studien. So hatten Patienten nach einer Tonsillektomie höhere Risiken für:
Assoziationen gab es auch mit psychiatrischen Störungen und mit Suizidalität. Patienten mit Rhinosinusitis und Mittelohrentzündung wiederum hatten ein erhöhtes Risiko für Depression, Angstzustände und stressbedingte Störungen.
Aufgrund der Vielzahl an Risikofaktoren wollten Forscher jetzt wissen, ob es vielleicht Zusammenhänge mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), akuten Stressreaktionen oder Anpassungsstörungen gibt – und wurden fündig.
Für ihre Kohortenstudie zogen sie landesweite Bevölkerungs- und Gesundheitsregisterdaten aus Schweden heran. Eingeschlossen wurden alle Personen, die zwischen dem 1. Januar 1981 und dem 31. Dezember 2016 in Schweden geboren wurden und bei denen die Mandeln oder Polypen operativ entfernt worden sind.
Ihre Daten wurden mit Aufzeichnungen nicht verwandter Personen ohne solche OPs verglichen. Exponierte und nicht exponierte Personen haben die Wissenschaftler zu Beginn der Nachbeobachtung nach Geschlecht, Geburtsjahr und Zeitpunkt der Studienaufnahme (Bevölkerungskohorte) verglichen. Hinzu kamen exponierte und nicht exponierte Vollgeschwister (Geschwisterkohorte). Die Geschwisterkohorte sollte den möglichen Einfluss genetischer Faktoren verringern.
Eine Kohorte von 83.957 exponierten Personen wurde dabei einer bevölkerungsgleichen Kohorte von 839.570 nicht exponierten Personen gegenübergestellt. Hier lag das Durchschnittsalter zu Studienbeginn bei 14,4 Jahren. Hinzu kam die Geschwisterkohorte mit 51.601 exponierten und 75.159 nicht exponierten Personen im Durchschnittsalter von 13,3 Jahren.
Anhand des schwedischen Patientenregisters konnten Forscher Diagnosen wie PTBS, akute Stressreaktionen und Anpassungsstörungen ermitteln.
Bei Probandanden in der Bevölkerungskohorte, denen die Mandeln oder Polypen operativ entfernt wurden, war das Risiko für stressbedingte Störungen um 43 % höher als bei anderen Personen ohne solche OPs. Speziell bei PTBS waren es 55 %.
Mit der Geschwisterkohorte konnten Forscher ihre Resultate bestätigen: Hier war das Risiko für stressbedingte Störungen und PTBS bei exponierten Personen um 34 % bzw. 41 % höher als bei den Kontrollen.
Diese Unterschiede blieben auch nach Berücksichtigung von Faktoren wie Alter zum Zeitpunkt der OP, den Bildungsstand der Eltern und stressbedingte Erkrankungen der Eltern bestehen. Heißt: Das sozioökonomische Umfeld der Probanden schien keine große Rolle zu spielen.
Mit ihrer Studie zeigen die Autoren Assoziationen, aber keine Kausalitäten. Auch zu möglichen Pathomechanismen können sie keine Aussagen treffen. Sie haben in ihrer Veröffentlichung zumindest einige Hypothesen formuliert:
Tatsächlich gibt es Hinweise auf ein wechselseitiges Zusammenspiel von Entzündungen und neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen. So könnten periphere Entzündungsmediatoren wie Zytokine das zentrale Nervensystem erreichen und dort biochemische Prozesse aus dem Gleichgewicht bringen.
Ob diese immunologische Hypothese stichhaltig ist, erscheint fraglich. Auch bei einer Tonsillektomie bleibt Restgewebe im Körper, dass gewisse Aufgaben übernehmen kann. Auch haben die Forscher den Trend hin zu mehr Tonsillotomien nicht analysiert. Eigentlich sollte gemäß der Vermutung das Risiko für stressbedingte Störungen sinken. Es gibt also noch viele Fragen.
Zusammenfassung für Eilige:
Quelle
Xue Xiao et al: Stress-Related Disorders Among Young Individuals With Surgical Removal of Tonsils or Adenoids. JAMA Netw Open, 2024. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.49807.
Bildquelle: dhanya purohit, Unsplash