Herz, Magen, Hirn – Brustschmerzen können diverse Ursachen haben. Wie ihr einen akuten Notfall von einer somatischen Belastungsstörung unterscheidet, erfahrt ihr hier.
Wenn etwa 40 Patienten am Tag die Hausarztpraxis aufsuchen, dann kommt im Schnitt einer wegen Brustschmerzen – etwa einem Brennen, Ziehen, Stechen, oder einer anderen Missempfindung im Bereich des vorderen und seitlichen Thorax. Oft kommt noch Angst oder sogar Panik dazu. Die S3-Leitlinie „Brustschmerz“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin DEGAM hat jetzt auf 71 Seiten zusammengefasst, wie man solchen Patienten begegnen sollte.
Die Leitlinie soll ein „Instrument des professionellen Lernens“ sein – und ist ein MUSS für jeden Hausarzt: Zum einen, weil Brustschmerzen so häufig sind, zum anderen, weil sie dem Arzt hilft, zwischen Sensitivität und Spezifität eine gute Balance zu finden. Denn leider gibt es die beiden Aspekte „Nichts übersehen“ und „Pferde nicht unnötig scheu machen“ nicht im Doppelpack, sodass zwangsläufig auch Patienten durch die Maschen rutschen, die dringend hätten behandelt werden müssen. Dann entlastet es, zu wissen, die DEGAM-Empfehlungen befolgt zu haben.
Meist gibt es keinen Grund zur Eile oder Beunruhigung. Denn knapp die Hälfte aller Beschwerden haben ihre Ursache in muskuloskelettalen Krankheiten, die man als Brustwandsyndrom zusammenfasst. Dann kann man den Patienten getrost zu einem „abwartenden Offenhalten“ raten. In jeweils 10 bis 12 % der Fälle sind psychische Störungen und Atemwegsinfekte die Ursache. Danach folgen stabile KHK und Magendarm-Probleme.
Brenzlig wird die Situation, wenn dem Brustschmerz ein akutes Koronarsyndrom zugrunde liegt, was bei 2 bis 4 % der Patienten der Fall ist. Auch bei den – allerdings deutlich selteneren – Fällen einer fulminanten Lungenembolie, Aortendissektion, Spannungspneumothorax und Ösophagusruptur sollte sofort ein Notarzt verständigt werden. Für die gebotene Eile sorgt am besten eine Standardprozedur schon beim Erstkontakt. Sobald sich ein Patient mit Brustschmerzen meldet, und sei es telefonisch, soll unter anderem abgeklärt werden, ob ein akutes Kreislaufversagen droht, der Patient verwirrt oder kaltschweißig ist und besonders große Angst verspürt.
Ist der Erstcheck absolviert und keine Gefahr im Verzug, folgen Anamnese und Untersuchungen. Es sei heute überholt, wie die Autoren betonen, zunächst nach körperlichen Ursachen zu fahnden und erst, wenn man nichts findet, den Patienten psychosozial einzuschätzen. Vielmehr sollen Körper und Geist gleichrangig untersucht werden, „um eine frühzeitige Fixierung auf somatische Ursachen zu vermeiden“. Man solle mit den Patienten eine positive Erklärung erarbeiten – „Etikette wie ,Ausschluss KHK’ oder ,Sie haben nichts’ sind im Gespräch unzureichend oder gar kontraproduktiv“.
Begründet wird die neue Herangehensweise auch damit, dass psychische Störungen, wie Angst- und Panikstörungen, depressive Störungen und somatische Belastungsstörungen, möglicherweise nicht nur die Ursache von Brustschmerzen sind, sondern auch parallel zu körperlichen Beschwerden auftreten und diese verstärken können. Dann werden die Schmerzen intensiver und bedrohlicher wahrgenommen.
Die somatische Belastungsstörung ist eine neue Diagnose. Bislang wurde die Diagnose somatoforme Störung im Ausschlussverfahren gestellt; das heißt, wenn man keine körperlichen Ursachen finden konnte. Die somatische Belastungsstörung dagegen ist positiv definiert: Patienten haben somatische Symptome seit mehr als einem halben Jahr, sie schenken den Beschwerden unverhältnismäßig viel Beachtung, haben große Angst um die eigene Gesundheit und widmen den Beschwerden übermäßig viel Zeit und Energie. Das Gute an der neuen Definition: „Damit wird sowohl der Geist-Körper-Dualismus als auch die Gleichsetzung von medizinisch unerklärten mit psychischen Erkrankungen vermieden.“
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