Erst sieht es nach einer harmlosen Erkältung aus – doch dann kommt ein epileptischer Anfall hinzu. Als die junge Frau die Klinik im Pyjama verlassen will, wächst die Sorge der Ärzte.
Eine 23-jährige Frau wird nach einem epileptischen Anfall ins Krankenhaus aufgenommen. Seit zwei Wochen fühlt sie sich etwas unwohl und hat Kopfschmerzen; in den letzten beiden Tagen hat sich die Erzieherin deshalb krank gemeldet. Vor der Aufnahme hatte sie einen generalisierten epileptischen Anfall, der von ihrem Freund beobachtet wurde: Sie wurde am ganzen Körper steif wie ein Brett, hatte eine röchelnde Atmung und lief blau im Gesicht an. Nach zwei Minuten war der Anfall vorbei, doch die Patientin blieb müde und verlangsamt.
Der Freund rief einen Krankenwagen, die Patientin wurde über die Notaufnahme auf die Station aufgenommen. Labor und Schädel-CT waren unauffällig. Eine Epilepsie ist bei der Patientin nicht bekannt, es liegen keine Vorerkrankungen vor, sie nimmt keine Dauermedikation ein. Illegaler Drogenkonsum wird verneint, auch das Tox-Screening im Urin ist unauffällig.
Zur Abklärung des epileptischen Anfalls werden ein EEG und ein Schädel-MRT durchgeführt, die keinen Hinweis auf das Vorliegen einer Epilepsie ergeben. Zum Ausschluss entzündlicher Ursachen wird eine Lumbalpunktion durchgeführt. Im Liquor wird eine leichte Erhöhung der Zellzahl festgestellt – diese kann unspezifisch sein, dennoch wird auf Verdacht eine antivirale und antibiotische Therapie durchgeführt. Der Liquor wird weiter auf die üblichen Erreger (u.a. Borreliose und Herpesviren) untersucht.
Sobald die Ergebnisse negativ sind, können die Medikamente wieder abgesetzt werden. In der Zwischenzeit fällt auf, dass sich die Patientin unkooperativ verhält, die Blutentnahme verweigert, plötzlich aufsteht und die Station verlassen will, obwohl sie nur mit einem Schlafanzug bekleidet ist. Gutes Zureden vonseiten der Angehörigen überzeugt sie schließlich, in Behandlung zu bleiben – sie wirkt aber weiterhin misstrauisch gegenüber dem Personal.
Aufgrund der neu aufgetretenen psychischen Symptome werden weitere Untersuchungen des Liquors durchgeführt. Hier stoßen die Ärzte schließlich auf die Ursache der Symptome. Es werden Antikörper gegen den NMDA-Rezeptor nachgewiesen: Die Patientin leidet an einer Autoimmunenzephalitis. Dabei handelt es sich um eine Entzündung des Gehirns, die nicht durch Krankheitserreger wie Viren oder Bakterien ausgelöst wird, sondern durch das eigene Immunsystem, das sich gegen körpereigene Strukturen richtet.
Die Immunzellen der Patientin bilden Antikörper, die sich gegen NMDA-Rezeptoren richten. Diese Rezeptoren befinden sich auf Nervenzellen in verschiedenen Regionen des Gehirns, was die Symptome der Krankheit erklärt. Die psychiatrischen Symptome entstehen durch eine Beteiligung des präfrontalen Kortex und des limbischen Systems, die epileptischen Anfälle durch eine Beteiligung des Temporallappens und des Hippocampus.
Da die Symptome durch eine fehlgeleitete Immunreaktion entstehen – die Antikörper greifen das Gehirn an – besteht die Therapie in der Hemmung dieser Immunreaktion. Es muss versucht werden, die Produktion der krankheitsauslösenden Antikörper möglichst vollständig zu unterbinden. Zunächst wird die Patientin mit hochdosiertem Kortison behandelt, am nächsten Tag beginnt eine Plasmapheresebehandlung. Diese tauscht das Blutplasma aus und die im Blut schwimmenden Antikörper werden entfernt.
Zur langfristigen Symptomkontrolle wird die Patientin zusätzlich mit Rituximab behandelt. Rituximab ist ein therapeutischer Antikörper, der gegen B-Zellen gerichtet ist. B-Zellen sind diejenigen Immunzellen, die Antikörper bilden. Werden sie durch die Therapie zerstört, können keine krankheitsverursachenden Antikörper gegen den NMDA-Rezeptor mehr gebildet werden.
Der Nachteil ist, dass auch andere Antikörper zur Krankheitsabwehr nicht mehr gebildet werden. Eine langfristige Nebenwirkung ist daher eine erhöhte Infektionsgefahr. Diese möglichen Nebenwirkungen müssen jedoch in Kauf genommen werden, da die Autoimmunenzephalitis anders nicht in den Griff zu bekommen ist und unbehandelt tödlich verlaufen kann.
Trotz der rasch eingeleiteten Kombinationstherapie verschlechtert sich der Zustand der Patientin zunächst weiter. Aufgrund der zunehmenden psychotischen Symptome muss die Patientin sediert werden, da sonst die Therapien nicht durchgeführt werden können. Außerdem treten erneut epileptische Anfälle auf. Um diese in den Griff zu bekommen, muss die Patientin in ein künstliches Koma versetzt werden.
Nach einem langen Aufenthalt auf der Intensivstation kommt es über Wochen zu einer Stabilisierung und schließlich zu einer langsamen Besserung. Es bestehen jedoch weiterhin kognitive Defizite, die Patientin vergisst vieles und kann sich nicht konzentrieren, weshalb eine Rehabilitationsbehandlung an die Krankenhausbehandlung angeschlossen wird.
Die Autoimmunenzephalitis ist eine relativ seltene Erkrankung, von einer Million Menschen erkranken nur 5 bis 10 pro Jahr. Die häufigste Unterform mit Antikörpern gegen den NMDA-Rezeptor, wie im beschriebenen Fall, betrifft meist junge Frauen. Aufgrund der unterschiedlichen Symptome und Erscheinungsformen kann die Diagnosestellung schwierig sein, wobei ein frühzeitiger Therapiebeginn entscheidend ist, um Folgeschäden zu vermeiden. Bekannt wurde die Erkrankung auch durch die Netflix-Serie “Brain on Fire”, in der die Schwierigkeit der Diagnosestellung thematisiert wird. Die Protagonistin leidet zunächst an Stimmungsschwankungen, dann kommen psychotische Symptome und Gedächtnisprobleme hinzu.
Lange wird eine psychiatrische Erkrankung vermutet, bis schließlich die richtige Diagnose gestellt wird. Die Erkrankung liegt an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Neurologie – und ist daher für beide Fachbereiche von hoher Relevanz. Vor allem beim erstmaligen Auftreten psychotischer Symptome sollte immer eine gründliche organische Ausschlussdiagnostik mittels MRT und Liquordiagnostik erfolgen, um eine mögliche Autoimmunenzephalitis nicht zu übersehen.
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