Noch vor der Geburt zum Pflegefall werden – so ergeht es Patienten mit einer RERE-assoziierten neurologischen Entwicklungsstörung. Darum ist es umso wichtiger, die Erkrankung frühzeitig zu erkennen. Wie das gelingt, erfahrt ihr hier.
Bei der RERE-assoziierten neurologischen Entwicklungsstörung handelt es sich um ein seltenes, genetisch bedingtes Dysmorphie-Syndrom, das vor allem durch globale Entwicklungsverzögerung, Intelligenzminderung, Krampfanfälle und Autismus-Spektrum-Störungen in Erscheinung tritt.
Da bei diesen Kardinalsymptomen natürlich einige Differentialdiagnosen in Frage kommen, gelingt eine sichere Diagnose in vielen Fällen erst auf den dritten Blick.
Bei einer geschätzten Prävalenz von 1 zu 1 Millionen gilt die RERE-assoziierte neurologische Entwicklungsstörung selbst unter den seltenen Erkrankungen als Rarität, wird autosomal-dominant vererbt und manifestiert sich bereits vorgeburtlich im Mutterleib und bzw. oder in der Neugeborenzeit. Obgleich sich verschiedene Fälle durch variable Begleitmerkmale unterscheiden und die Forschung zu Diagnostik und Therapie noch in den Kinderschuhen steckt, fasst eine Übersichtsarbeit von Scott et al. die wichtigsten bisher bekannten Charakteristika zusammen.
RERE-bedingte Erkrankungen sind typischerweise auf neue pathogene Gen-Varianten zurückzuführen und haben – trotz einer gewissen phänotypischen Heterogenität – vor allem die schweren neurologischen Entwicklungsstörungen gemeinsam. Auf somatischer Ebene können zudem – in variabler Form – ophthalmologische Anomalien, angeborene Herzfehler, urogenitale Fehlbildungen und kraniofaziale Dysmorphien vorkommen. Letztgenannte umfassen dabei u. a. Epikanthusfalten, tief angesetzte und nach hinten gedrehte Ohren, antevertierte Nasenflügel sowie eine Mikrognathie und führen zu weiteren schweren Einschränkungen der Lebensqualität.
Um einige Fehlbildungen möglichst frühzeitig – am besten noch vor der Geburt – behandeln zu können, spielen genetische Untersuchungen eine wichtige Rolle. So werden pränatale Tests auf eine Schwangerschaft mit erhöhtem Risiko und genetische Präimplantationstests immer dann möglich, sobald die pathogene RERE-Variante bei einem betroffenen Familienmitglied nachgewiesen werden konnte. Fallen diese Tests positiv aus, beginnt die Suche nach behandelbaren Krankheitszeichen.
Da insbesondere während einer Schwangerschaft zum Schutze von Mutter und ungeborenem Kind nicht alle diagnostische Methoden zur Verfügung stehen, beschränken sich die Möglichkeiten auf klassische Pränataltests via mütterlichem Blut und Fruchtwasser sowie die Bildgebung mittels Ultraschall. Sobald – nach der Geburt – eine konventionelle Bildgebung des Gehirns durchführbar wird, können diese Untersuchungen u. a. eine Ausdünnung des Corpus callosum, Anomalien der weißen Substanz, Ventrikulomegalien und bzw. oder einen kleinen zerebellären Vermis zeigen. Schließlich können MRT-Befunde aber auch weitestgehend normal ausfallen, was eine schnelle Bestätigung von Verdachtsdiagnosen noch etwas schwerer macht.
Und da es – in Anlehnung an den o. g. Review – bis heute keine festen diagnostischen Kriterien gibt, wird die einschlägige Diagnose am besten mittels genetischer Untersuchungen gestellt. Gängige Methoden umfassen dabei die Chromosomenmikroarrayanalyse (CMA), Sequenzanalysen, sowie Oligonukleotid- oder SNP-Arrays zur Erkennung genomweiter großer Deletionen oder Duplikationen, die durch Sequenzanalyse nicht identifiziert werden können.
Bis zur „vielleicht irgendwann einmal“ verfügbaren Gentherapie verbleiben aktuelle therapeutische Ansätze auf symptomatischer Ebene. So können beispielsweise Herzfehler vor oder nach der Geburt operiert und epileptische Anfälle mit Antiepileptika behandelt werden. Für muskuloskelettale Probleme gibt es Botox® und Physiotherapie, und Fehlbildungen des Urogenitaltraktes können ebenfalls in vielen Fällen erfolgreich chirurgisch behandelt werden.
Durch die psychischen Symptome – Intelligenzminderung und Entwicklungsverzögerung – werden Betroffene noch vor der Geburt praktisch zum Pflegefall und sind lebenslang auf Hilfe angewiesen. Angesichts der vielen schweren Symptome ist die Aussicht auf eine gute Lebensqualität sehr nüchtern; auch für die Angehörigen bedeutet ein erkranktes Kind einen schweren Schicksalsschlag.
Zukünftige Forschungsfragen sollten sich daher – meiner Meinung nach – vor allem auf ursächliche Therapieansätze stützen: Wie kann man die Kinder risikoarm bereits in utero operieren? Gibt es die Change auf kurative genetische Therapien? Wie kann man – psycho- und ergotherapeutisch – die Entwicklung der Kinder fördern?
Schließlich spielt auch die Früherkennung eine wichtige Rolle für die erfolgreiche Therapie. Und genau hier will dieser Text ansetzen – denn nur, wer eine (seltene) Erkrankung kennt, kann rechtzeitig eine Diagnose stellen!
Bildquelle: Olav Ahrens Røtne, Unsplash