KOMMENTAR | Leitlinien für Patienten sind wichtig – helfen aber nur, wenn diese sie auch kennen. Warum tun sich Mediziner nur so schwer damit, bei der Verbreitung Expertise von außen einzuholen?
Was macht ein gewöhnlicher Mensch, wenn er keine Ahnung hat? Er fragt jemanden, der Ahnung hat. Und was macht ein Wissenschaftler, wenn er keine Ahnung hat? Er macht eine Studie. Das ist an sich ja ein lobenswertes Vorgehen, aber manchmal doch etwas, sagen wir, umständlich. Gerade die evidenzbasierte Medizin schottet sich gerne gegen Expertise von außen ab. So beackert sie mit ihren klinischen Studien und Reviews seit Jahrzehnten die Frage, ob ein Wirkstoff, der nicht mehr da ist, noch wirken kann – wider aller sicheren Erkenntnisse der Physik und Chemie.
Auch bei der Frage, wie man Informationen an Patienten bringt, wird kaum auf das Wissen der schreibenden und werbenden Zünfte zurückgegriffen – die, by the way, natürlich auch Forschung betreiben. Lieber schmort man im eigenen Saft, um mit gewaltigem Aufwand Erkenntnisse zu generieren, die Marketing-Leute und Journalisten längst haben.
Nehmen wir das Beispiel Patientenleitlinien. Laut Monika Nothacker von der Arbeitsgemeinschaft der AWMF kam schon bei der Einführung der onkologischen Leitlinien der Wunsch auf, das zusammengetragene Wissen für Patienten verständlich aufzubereiten. Auf der 34. Leitlinienkonferenz der AWMF Mitte Dezember stellte Nothacker fest: „Da hat man sich gar keine Gedanken über das Marketing gemacht. Man hat gedacht, wenn man die erstellt hat, dann werden sie auch verbreitet.“
Dabei wären ein paar Gedanken ganz hilfreich gewesen. Denn die inzwischen 30 onkologischen Patientenleitlinien sind laut einer Erhebung einem großen Teil der Zielgruppe unbekannt. Was wirklich schade ist, weil erstens immense Ressourcen in die Erstellung der Patientenleitlinien fließen, und zweitens die Patienten, die die Leitlinien kennen, damit überwiegend zufrieden sind.
Was also tun? Endlich Marketing-Experten an Bord holen? Grundsätzlich einen Teil des Budgets für Verbreitung einplanen? Weit gefehlt. Viel lieber warfen einige Institute und Organisationen ihre Hochleistungsmaschinerie an, um der Sache mit eigenen Mitteln auf den Grund zu gehen. Und da in der Wissenschaft nur der was gilt, der klotzt und nicht kleckert, warb das Konsortium Gelder vom Innovationsfonds des G-BA für ein zweijähriges Projekt namens „Anwendbarkeit und Implementierung von Patientenleitlinien in der Onkologie“, kurz AnImPaLLO, ein.
Das Design und die Ergebnisse des Projekts stellte Jessica Breuing von der Uni Witten/Herdecke auf der AWMF-Konferenz vor: „Ziele waren die Identifikation von Verbesserungspotentialen in Bezug auf die Gestaltung, Format, Inhalte und Verständlichkeit von PatLL und von geeigneten Strategien für die Dissemination und Implementierung von PatLL“. Soll heißen: Wie kann man die Patientenleitlinien besser machen – und wie kriegt man sie unter die Leute?
In einem ersten Modul durchforsteten die Projektbetreiber die Fachliteratur zu Leitlinien und sprachen mit internationalen Erstellern von Leitlinien. In einem zweiten Modul interviewten sie Patienten und Ärzte und diskutierten mit ihnen in Fokusgruppen. Daraus entwickelten sie 35 Empfehlungen, die sie in einem Workshop mit 23 Experten aus 24 Organisationen abstimmten. Am Ende des Prozesses wurden 28 Empfehlungen angenommen, 11 davon zum Thema Dissemination: So sollen beispielsweise Patientenleitlinien über Einrichtungen des Gesundheitswesen verbreitet und über Selbsthilfegruppen und Krebsberatungsstellen beworben werden.
Zum Thema Leitliniendesign wurde als Top-Empfehlung herausgearbeitet: „Die Darstellung der medizinischen Empfehlungen „soll“, „sollte“, „kann“ durch Fettschrift deutlicher hervorheben.“ Wichtiges fetten? Da staunt die Fachwelt. Noch spannender sind die Empfehlungen, die keine Gnade vor den Augen der 23 Experten fanden: So fiel die Idee „Verbreitung der Patientenleitlinien über Social Media“ mit 0 % Zustimmung glatt durch. Begründung: Dafür fehlen Ressourcen.
Patientenleitlinien haben neben ihrer Unbekanntheit noch ein zweites Problem: Manche sind hoffnungslos veraltet. Üblicherweise wird eine Aktualisierung erst dann in Angriff genommen, wenn die zugrundliegende ärztliche Leitlinie fertig aktualisiert ist. Und mit Erstellen, Abstimmen und Freigeben vergehen viele Monate – wie viele, kann Jessica Breuing nicht sagen. Auch die Krebshilfe, die die onkologischen Patientenleitlinien finanziert und sich deren Freigabe vorbehält, gibt nur die Auskunft, dass die Bearbeitungsdauer variiere und es daher nicht möglich sei, eine allgemeingültige Aussage zu treffen. Immerhin dringt die AWMF laut Monika Nothacker darauf, die Abnahmeprozess zu beschleunigen.
Bis die aktuelle Patientenleitlinie alle Schritte durchlaufen hat und schlussendlich freigegeben ist, bleibt die alte in Umlauf. Das führt dazu, dass etwa die S3-Leitlinie zum Prostatakarzinom im Mai 2024 veröffentlicht wurde, die drei zugehörigen Patientenleitlinien aber noch von 2015 beziehungsweise 2018 stammen. Sehr zum Ärger von Udo Ehrmann, der als Patientenvertreter an der Leitlinien-Erstellung beteiligt ist: „Die Arzneimittel stimmen gar nicht mehr. Wenn die Patienten sich daran orientieren würden, wäre das eine Fehlbehandlung“, sagte er auf der AWMF-Konferenz. Doch Abhilfe ist in Sicht: Wie die Krebshilfe auf Nachfrage beteuert, werden die Prostatakrebs-Patientenleitlinien bald gedruckt.
Pikantes Detail am Rande: Die onkologischen Patientenleitlinien, auf deren Freigabe die Krebshilfe beharrt, stehen in Konkurrenz zu Krebshilfe-eigenen Produkten, den blauen Ratgebern. Die sind seit etlichen Jahrzehnten im Markt etabliert, und – wie die eingangs zitierte Erhebung zeigt – weithin bekannt und geschätzt. Aber die Krebshilfe hat als spendenfinanzierte Organisation, für die Bekanntheit existenziell wichtig ist, ja auch ein gutes Marketing.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney