Es wird über die Rückkehr von Karenztagen bei Arbeitsunfähigkeit diskutiert. Als Ärztin und Arbeitgeberin glaube ich nicht daran, dass diese Form der Einsparung uns weiterbringt.
Ich glaube ja: Keins der Formulare, die ich oft benutze, ist so politisch wie die AU (über die verschiedenen Typen hatte ich ja schon geschrieben). Jetzt kocht die Stimmung gerade wieder über, weil die Forderung aufkam, dass der erste AU-Tag nicht mehr bezahlt werden solle (als sogenannter „Karenztag“), um die Krankheitslast zu drücken.
Also ganz ehrlich: Ich bin mir ziemlich sicher, wohin das führen würde, wenn es umgesetzt würde – nämlich zu MEHR Fehltagen insgesamt. Und zwar aus verschiedenen Gründen.
Ganz pragmatisch: Man wird bestraft, wenn man früher versucht, wieder arbeiten zu gehen. Alle unsere Patienten wissen, dass eine AU kein Arbeitsverbot ist und man auch (entgegen mancher Gerüchte) ganz normal versichert ist, wenn man trotz AU arbeiten geht. Auf der AU steht: „voraussichtlich arbeitsunfähig bis“, weil wir als Ärzte eben nicht bis auf den Tag genau voraussehen können, wann jemand wieder arbeitsfähig ist. Denn auch bei einem ganz banalen Virusinfekt sind da durchaus 1–2 Tage Schwankung immer drin. Ich halte mich grob an den Spruch „Eine Erkältung dauert ohne Arzt sieben Tage, mit Arzt eine Woche“ (oder „kommt drei Tage, bleibt drei Tage, geht drei Tage“, wenn die Leute wirklich heftig krank sind). Sprich: Meistens reicht eine Krankschreibung für fünf Tage plus Wochenende und die Leute sind wieder fit.
Die oft gefragten „3 Tage müssen reichen“-Krankschreibungen sind gerade bei heftigerem Infektgeschehen oft schwierig. Montags läuft die Akutsprechstunde über mit allem, was am Wochenende krank geworden ist, dann aber AU „nur bis Mittwoch, das passt schon“. Daraufhin läuft dann aber am Donnerstag wieder die Sprechstunde über, weil es doch nicht gereicht hat. Aber ja, es gibt auch viele, die bei einer Krankschreibung für den Rest der Woche am Donnerstag oder Freitag wieder versuchen zu arbeiten, weil sie gern arbeiten möchten (die Kollegen nicht im Stich lassen, ihr Projekt vorantreiben – was auch immer). Und die würden dann, wenn sie versuchen früher arbeiten zu gehen, aber es nicht geht, doppelt bestraft (da ja wieder ein Karenztag entsteht, wenn sie früher arbeiten gehen, es aber nicht klappt). Deswegen würde das niemand mehr versuchen, der sich nicht wirklich sicher ist, dass es wieder klappt. Das Ergebnis: mehr Krankentage.
Diejenigen, die sich im Unternehmen nicht wohl fühlen und letztlich aus dem psychischen Konflikt heraus eher zum Krankmelden neigen, werden nach dem Motto „dann muss sich das auch lohnen“ verfahren und damit eher bei uns in der Praxis die Beschwerden aggraviert darstellen, um eine längere AU zu bekommen.
Letztlich wäre es interessant zu wissen, wie viele AU wirklich nur über einen Tag gehen (bei uns in der Praxis definitiv nur wenige). Denn nur die würden wirklich wegfallen. Was mir in den letzten Wochen und Monaten eher aufgefallen ist, ist eine Tendenz zu längeren AUs, weil viele in den letzten zwei Jahren auch länger mit banalen Infekten zu kämpfen hatten als vorher. Aber die waren auch wirklich krank. Inzwischen hat zumindest bei uns das Infektgeschehen deutlich nachgelassen und deswegen würde ich erst einmal diesen Effekt abwarten.
Was mich wirklich interessieren würde: Wie genau schlüsseln sich die Arbeitsunfähigkeitstage denn auf? Von „20 Tagen pro Jahr“ bei einem EU-Schnitt von „8 Tagen“ ist teilweise die Rede, die AOK spricht von 24 Krankheitstagen pro Arbeitnehmer letztes Jahr in Deutschland, wobei aber auch völlig unklar ist, ob der „Sprung“ an Krankheitstagen in den letzten Jahren auch mit der elektronischen Erfassung der AU zusammenhängt. Und die meisten AU sind nicht einen Tag, sondern für Atemwegsinfekte im Schnitt 6,1 Tage. Was richtig zu Buche schlägt, sind beispielsweise psychische Erkrankungen mit 28 Tagen pro Erkrankungsfall. Ob da der Karenztag wirklich den Unterschied macht?
Wobei man auch manchmal 2,8 Tage für psychische Erkrankung liest – das ist dann aber nicht auf den einzelnen Fall bezogen, sondern auf alle Versicherten umgerechnet. Da klingt das natürlich so, als könnte ein Karenztag was reißen, aber das ist ja völliger Quatsch, da man ja 1 von 28 rechnen muss (da man sich ja nur auf den einzelnen Erkrankten beziehen kann, nicht auf den Durchschnitt aller Versicherten). Das klingt aber nicht mehr nach einem so großen Effekt.
Und last but not least muss man natürlich auch über den demographischen Wandel reden: Mehr ältere Arbeitnehmer bedeuten halt auch mehr Muskel-/Skeletterkrankungen (eine Hüft- oder Knie-TEP bedeutet ja auch eine AU von mehreren Wochen).
In diesem Zusammenhang noch ein interessantes Detail: „2023 waren fast die Hälfte aller Arbeitsunfähigkeitstage (46,9 %) auf lediglich 5,7 % der Arbeitsunfähigkeitsfälle zurückzuführen. Dabei handelt es sich um Fälle mit einer Dauer von mehr als vier Wochen. Besonders zu Buche schlagen Langzeitfälle, die sich über mehr als sechs Wochen erstrecken. Obwohl ihr Anteil an den Arbeitsunfähigkeitsfällen im Jahr 2023 nur 3,4 % betrug, verursachten sie 39,3 % des gesamten AU-Volumens. Langzeitfälle sind häufig auf chronische Erkrankungen zurückzuführen. Der Anteil der Langzeitfälle nimmt mit steigendem Alter deutlich zu.“ (Seite 13 im WIdO-Fehlzeitenreport)
Für mich bleibt also auch da wieder nur das alte Mantra: Wir brauchen echte Prävention! Bessere Gesundheitsvorsorge (also Verhinderung von Erkrankungen durch verbesserte Umweltbedingungen und „gesunde Gewohnheiten“) ist wichtiger als Gerangel um Karenztage, die meiner Meinung nach aufgrund ihres psychologischen Effektes – quasi als „Misstrauensvotum“ gegen den Arbeitnehmer – und der oben genannten Effekte wahrscheinlich nach hinten los gehen.
Es wäre toll, wenn die Arbeitgeber dabei unterstützen – mit mehr Bewegung durch Diensträder statt dicker Dienstwagen, mit gesunder Ernährung in der Kantine und Anreizen für gesünderen Lebensstil. Das wäre meiner Meinung nach wirklich ein Gewinn für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – und für das Gesundheitssystem. Bildquelle: Frank van Hulst, unsplash