Ab wann ist jemand psychisch „krank“? Störungen unterhalb der Diagnoseschwelle stellen Therapeuten vor große Herausforderungen – schließlich gibt es keine Objektivität. Wie ihr am besten damit umgeht.
Laut statistischen Daten aller DAK-Versicherten rangierten psychische Erkrankungen mit ca. 16 % auf dem dritten Platz der medizinischen Anlässe für Arbeitsunfähigkeitstage. Die Definition, was „psychisch krank“ ist, lässt sich in diesem Kontext leicht festlegen und orientiert sich an der der Krankenkasse mitgeteilten F-Diagnose (gem. ICD-10). Es mag sein, dass die Diagnose in den meisten Fällen relativ gesichert und klar ist. Dies ist jedoch nicht immer der Fall im klinischen Alltag – insbesondere, wenn es sich um psychische Erkrankungen handelt.
Im Gegensatz zum organmedizinischen Diagnostikprozedere basiert die psychiatrische Diagnose auf subjektiven Daten, gewonnen durch Bericht der Patienten, vielleicht auch validiert durch klinische Skalen (i. d. R. auch als Selbstbericht oder Selbsteinschätzung), selten durch Fremdeinschätzung oder vertiefte und störungsspezifische Interviews. Idealerweise hat man zusätzlich Verlaufsinformationen mit früheren Behandlungen und deren Wirksamkeitsangaben. „Objektive“ oder apparative Befunde gibt es nicht, zumindest nicht im Versorgungsalltag bei Niedergelassenen oder in der Klinik.
Und weil es gerade um die Versorgungsrealität geht, ist die Eindeutigkeit und die Trennschärfe der psychiatrischen Diagnosen nicht immer gegeben. Hinweis: Es geht hier nicht um eine methodenkritische oder grundlegend kritische Betrachtung der psychiatrischen Diagnosen – auch wenn sie gerechtfertigt sein mag. Es geht hier um die unterschiedlichen, sehr heterogenen Abstufungen und Verdünnungsformen psychischen Erlebens und Verhaltens und um die Trennlinie zwischen „gesund“, „interventionsbedürftig“ und „eindeutig krank“. Genauer gesagt um das – nicht so seltene – Phänomen der „unterschwelligen“ psychischen Krankheit.
Im Gegensatz zu klaren psychosozial beeinträchtigenden psychischen Erkrankungen (z. B. mittelgradige oder schwergradige depressive Episode, Anorexia Nervosa, Zwangsstörungen, etc.), handelt es sich bei unterschwelligen psychischen Störungen um „leicht ausgeprägte, symptomarme, maskierte, atypische oder auch intensivere, aber dann hinsichtlich der diagnostischen Zeitkriterien nur sehr kurz dauernde psychopathologische Syndrome unterhalb der Schwelle operationalisierter Diagnosen. Sie zeigen beginnende, intermittierende oder residuale Zustände bekannter psychischer Krankheiten oder (,komorbide’) Begleitsyndrome anderer psychischer oder körperlicher Krankheiten, möglicherweise teilweise auch eigenständige Krankheitszustände an. Sie sind offenbar häufig und haben ernste Konsequenzen im Hinblick auf individuelles Leiden und begrenzte finanzielle Ressourcen“.
Dass eine angemessene Diagnosestellung anhand solcher Symptome unter begrenzten zeitlichen Ressourcen – wie vor Antragsstellung einer Psychotherapie oder im Rahmen einer kurzzeitigen psychiatrischen Krisenintervention – herausfordernd sein können und auch zu falsch-negativen diagnostischen Urteilen führen, ist also leicht nachvollziehbar.
Nach meinem aktuellen Wissensstand ist die aktuelle Prävalenz von unterschwelligen psychischen Störungen bzw. Symptomen in der ambulanten psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung in Deutschland nicht bekannt bzw. wurde nicht systematisch erhoben. Auch der praktische Umgang damit und weitere Versorgungsempfehlungen sind nicht allgemein bekannt. Der klinische Umgang mit unterschwelligen psychischen Störungen variiert individuell und kann mitunter zur falsch-negativen klinischen Beurteilung führen.
Einige ältere US-Daten zeigen, dass eine kombinierte Symptomatik bestehend aus subsyndromaler Depression dreimal häufiger auftritt als eine „reine“ depressive Episode. Eine weitere Studie zeigt, dass es eher die Regel ist als die Ausnahme, dass subsyndromale oder unterschwellige Symptome sich mit eindeutigeren Symptomen während der Erkrankungsepisode abwechseln.
Für den klinischen Umgang mit unterschwelligen Symptomen schlagen Helmchen & Linden folgendes gestuftes Prozedere vor:
Schritt 1: auf Spontanremission warten
Schritt 2: Lebensstil ändern (z. B. Schlaf, Alkohol, Arbeit)
Schritt 3: Beratung und Unterstützung durch Freunde
Schritt 4: Geeignete Selbstmedikation
Schritt 5: Diagnostische Abklärung
Schritt 6: Beratung und Patientenführung
Schritt 7: Geeignete Medikation in üblicher Dosierung (z. B. SSRI)
Schritt 8: Intensivierte Medikation (z. B. anderes Medikament oder erhöhte Dosierung)
Schritt 9: Unterstützung bei der Lösung sozialer Probleme
Schritt 10: Strukturierte Psychotherapie
Interessant an der Darstellung ist, dass die Psychotherapie als letzter Schritt genannt wird, was auch die Bedeutung des Verlaufs und weiterer, unterstützender Systeme unterstreicht.
Die Diagnostik und Versorgung von psychischen Erkrankungen, insbesondere von unterschwelligen Störungen, bleibt eine anspruchsvolle Aufgabe, die durch Zeit- und Ressourcenmangel zusätzlich erschwert wird. Ein gestuftes Versorgungskonzept bietet einen praktikablen Ansatz: Dabei ist eine engmaschige Beobachtung und Anpassung der Maßnahmen essenziell, um individuell passende Hilfe zu gewährleisten. Um die Versorgung zu verbessern, sind jedoch weitere Forschung und systematische Datenerhebungen dringend notwendig.
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