Die Zahl der ADHS-Diagnosen steigt. Woran das liegt und welche objektiven Tests das Risiko von Überdiagnosen verringern könnten, lest ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Erneut sorgt die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) für Gesprächsstoff: Eine ältere Review und Metaanalyse aus 2007 nennt etwa 5 % als weltweite Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Aktuelle Datenquellen kommen auf deutlich höhere Zahlen; etwa 11,4 % bzw. 10,5 % (hier und hier).
„Wir gehen davon aus, dass der Anteil bei Jungen auf 15 % und bei Mädchen auf 11 % steigen wird, bevor sich der Trend abflacht“, schreibt Peter Salmi vom schwedischen Gesundheits- und Sozialamt. Wie kann das sein?
Sven Bölte, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am schwedischen Karolinska Institutet, hat sich auf die Suche nach Erklärungen für die Trends gemacht. Seine Vermutungen:
Alles in allem erklärt Bölte die Zahlen mit sozialen bzw. politischen Faktoren und mit mehr Erfahrung von Ärzten – nicht mit objektiv ansteigenden Krankheitsraten: Diagnostische Kriterien sind etwa im DSM-5 oder im ICD-11 zu finden. Neben Anamnese-Gesprächen nutzen Ärzte standardisierte Fragebögen sowie Berichte von Eltern, Lehrern oder anderen Bezugspersonen. Es gibt keine biologischen Marker wie Bluttests oder bildgebende Verfahren, um eine Diagnose abzusichern.
Teresa Rossignoli Palomeque von der Universidad Antonio de Nebrija, Madrid, hofft auf einen Paradigmenwechsel. Sie schreibt, Computational Neuroscience könnte zu objektiveren Diagnosen führen. Dieses interdisziplinäre Forschungsgebiet verbindet Methoden aus den Neurowissenschaften, der Informatik, der Mathematik und der Physik, um die Funktionsweise des Gehirns und des Nervensystems zu analysieren – von einzelnen Neuronen und neuronalen Netzwerken bis hin zu komplexen kognitiven Prozessen.
Computational Neuroscience hilft Ärzten, EEG zu interpretieren. Bei ADHS wurden unterschiedliche Muster in P3b- und N200-Wellen beobachtet, die mit Aufmerksamkeit, Hemmung und Selbstkontrolle in Verbindung gebracht werden. P3b steht für eine direkte Reaktion des Gehirns auf einen externen Reiz und ist mit der Verarbeitung von relevanten oder unerwarteten Ereignissen verknüpft. Bei ADHS ist die P3b-Welle normalerweise schwächer oder tritt verzögert auf. N200-Wellen werden mit Problemen bei der Impulskontrolle und der Fokussierung der Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht.
Darüber hinaus zeigen Neuroimaging-Technologien Auffälligkeiten bei ADHS. So hat die Magnetresonanztomographie (MRT) geringere Volumina in mehreren Bereichen des Gehirns aufgedeckt. Dazu gehören:
Mit anderen Techniken wie der Positronenemissionstomographie (PET) haben Forscher bei ADHS im Vergleich zu Kontrollen eine geringere Glukoseaufnahme in mehreren Gehirnregionen nachweisen können. Darüber hinaus fanden sie eine geringere Durchblutung der weißen Substanz in den Frontalbereichen – das könnte Schwierigkeiten bei der Konzentration und bei der Impulskontrolle erklären.
Nicht zuletzt zeigen Studien einen Rückgang des Dopaminspiegels in dopaminergen Bahnen bei ADHS. Dopamin ist für das Belohnungssystem des Gehirns essenziell: Es beeinflusst die Motivation, die Aufmerksamkeit und das Lernen.
Studien dieser Art gibt es viele. Obwohl bildgebende Verfahren wertvolle Einblicke in neurobiologische Grundlagen von ADHS liefern, sind sie derzeit nicht spezifisch genug, um als diagnostische Tools verwendet zu werden. Das liegt vor allem an kleinen Studien. Auch gibt es derzeit keine standardisierten Protokolle für das EEG, das MRT oder das PET zur ADHS-Diagnose. Die Interpretation der Ergebnisse hängt stark von der Expertise der Forscher oder Ärzte ab. Und nicht zuletzt sind bildgebende Verfahren teuer und aufwändig.
Zusammenfassung für Eilige:
Bildquelle: Alex Shuper, Unsplash