Urin ist alles andere als steril – so weit, so klar. Was das Urobiom aber wirklich über den Gesundheitszustand verrät, auf welche Gefahren es hindeuten kann und welche Therapien besonders von seiner Bestimmung profitieren, lest ihr hier.
Für Eilige haben wir den Artikel am Ende zusammengefasst.
Im letzten Jahrzehnt hat das menschliche Mikrobiom sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien für großes Aufsehen gesorgt. Wer die Netflix-Dokumentation „Hack your health“ sieht, bekommt in 90 Minuten eine faszinierende Einführung in die Auswirkungen des Mikrobioms des Darms – von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Darmkrebs und Diabetes bis hin zu unserem emotionalen Wohlbefinden. Während bisher vor allem das Mikrobiom des Darms im Fokus stand, rückt nun auch das Mikrobiom des Harntrakts zunehmend in den Blickpunkt.
Es wurde lange Zeit angenommen, dass der niedrige pH-Wert, die Zusammensetzung aus Harnstoff, Nitraten und Salz sowie die regelmäßige Entleerung des Urins keine optimale Bedingung für das Wachstum von Mikroorganismen bietet. Dank der 16S rRNA Sequenzierung wurde der Mythos vom „sterilen“ Urin entkräftet und nachgewiesen, dass im Harntrakt residente Mikrobiota vorhanden sind, die nicht mit einer Infektion gleichzusetzen sind. Mit der Entdeckung des „Urobioms“ wurden neue wissenschaftliche Theorien aufgestellt, die darauf hindeuten, dass ein Ungleichgewicht im Mikrobiom des Harntrakts nicht nur Harnwegsinfekte begünstigen kann, sondern auch eine Rolle bei der Entstehung von Karzinomen, Urolithiasis, Overactive Bladder und interstitieller Zystitis spielt.
Der physiologische Zustand
Im Urin eines Erwachsenen tummeln sich mehr als 200 verschiedene Bakteriengattungen. Die Dichte des Mikrobioms im Harntrakt ist dabei geringer als die im Darm: Auf einen Milliliter Urin entfallen etwa 104–105 Colony-forming Units (CFU), während der Darm eine Dichte von 1012 CFU/g aufweist. Beide Mikrome überschneiden sich zu ca. 64 % im Spektrum.
Das Mikrobiom ist altersabhängig und geschlechtsspezifisch, das kann zum einem anatomisch und zum anderen hormonell bedingt sein. Außerdem produzieren Frauen tendenziell mehr Zitrat, während Männer dafür mehr Kreatinin, Kalzium und Oxalat sekretieren. Dies schafft unterschiedliche Lebensbedingungen und führt zu Unterschieden in der Zusammensetzung des Urobioms.
Im Harntrakt von jungen Frauen sind am häufigsten Lactobacillus ssp., Gardnerella, Prevotella, Escherichia, Streptococcus, Atopobium, Actinomyces, Peptoniphilus, Dialister, Finegoldia, Anaerococcus, Allisonella, und Staphylococcus vertreten.
Bei Frauen über 70 Jahren wurde zusätzlich Jonquetella, Parvimonas, Proteiniphilum und Saccharofermentans nachgewiesen. Der Anteil von Lactobacillus verringert sich vermutlich durch niedrigere Östrogenlevel im Alter. Zudem tritt im Alter vermehrt Escherichia auf, jedoch ohne Beschwerden auszulösen. Insgesamt zeigte sich eine abnehmende Diversität.
Bei Männer wurden vorallem Pseudomonas, Corynebacterium, Streptococcus, Veillonella, Prevotella, Staphylococcus, Finegoldia, Lactobacillus, Streptococcus, Sneathia, Mycoplasma und Ureaplasma gefunden.
Über die Dauer eines Menschenlebens bleibt das Urobiom nicht konstant, so beeinflussen neben der Änderung im Hormonhaushalt und des pH-Werts, Lifestylefaktoren wie z.B, Rauchen und Ernährung, Miktionsverhalten, Hygiene, Zirkumzision und antibiotische Therapien das Milieu.
Eine veränderte Zusammensetzung, Fehlbesiedlung oder Schwankungen in der Diversität des Mikrobioms können zu einer Dysbalance führen – der sogenannten Dysbiose. Diese Ungleichgewichte spielen laut Studien eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Erkrankungen wie Zystitiden, Inkontinenzen, einer überaktiven Blase, interstitieller Zystitis und Prostatitis.
Einige Bakterien – darunter Corynebacterium glucuronolyticum, Streptococcus gallolyticus und Aerococcus sanguinicola – finden sich sowohl in gesunder Blasenflora als auch bei Harnwegsinfekten. Kustrimovic et al. vermuten daher, dass bestimmte Zystitiden weniger durch die Invasion eines Pathogens verursacht werden, sondern vielmehr auf ein Ungleichgewicht im Mikrobiom zurückzuführen sind.
Es ist bekannt, dass Mikrobiotika eine zentrale Rolle in der Karzinogenese spielen. So kann Helicobacter pylori Magenkarzinome verursachen und humane Papillomviren (HPV) das Risiko für Zervix- und Peniskarzinome erhöhen. Ebenso ist der Zusammenhang zwischen der Infektion mit dem Parasiten Schistosoma und der Entstehung von Plattenkarzinomen der Blase gesichert.
Der Einfluss des Urobioms auf die Entwicklung von Urothelkarzinomen ist hingegen noch ein aktiver Forschungsgegenstand. Bisher gelten Rauchen sowie die Exposition gegenüber polyzyklischen Aromaten, aromatischen Aminen und Arsen als die größten identifizierten Risikofaktoren. Diese karzinogenen Substanzen gelangen über die Blutbahn in die Nieren, werden dort ausgeschieden und verbleiben in der Blase, wo sie möglicherweise das Mikrobiom verändern und so die Karzinogenese begünstigen. Eine Dysbiose führt zur Aktivierung verschiedener Signalwege wie JAK-STAT3, NF-κB und PI3K-Akt-mTOR, die proinflammatorische Kaskaden in Gang setzen, Apoptosehemmung begünstigen und letztlich die Karzinogenese fördern.
Mehrere Forschungsarbeiten haben die Mikrobiome von Patienten mit Blasenkarzinomen untersucht und dabei eine erhöhte Präsenz von Fusobacterium nucleatum, Streptococcus, Corynebacterium, Acinetobacter, Actinomyces, Aeromonas, Anaerococcus, Pseudomonas, Rhodanobacter, Cutibacterium, Alloscardovia und Tepidomonas im Urin nachgewiesen. Im Gegensatz dazu wiesen gesunde Kontrollen signifikant höhere Anteile von Lactobacillus, Roseomonas, Veillonella und Corynebacterium auf.
Eine weitere Untersuchung identifizierte Moryella und Anaeroglobus Rhodanobacter in jeder Urinprobe der Patienten mit Blasenkarzinomen, während diese in keiner Probe der Kontrollgruppe nachgewiesen werden konnten. Das opportunistische Pathogen Fusobacterium nucleatum wurde bereits mit der Entstehung von kolorektalen und Ösophaguskarzinomen in Verbindung gebracht. Rhodanobacter zeigte sich bereits im Gewebe von kolorektalem Karzinom vermehrt präsentiert. (Ventrell, J. Et al, 2024)
Eine Instillationstherapie mit BCG (Bacillus-Calmette-Guérin) in der Blase erfolgt bei Patienten mit intermediärem und hochriskantem nicht muskelinvasivem Blasenkarzinom. Ziel dieser Therapie ist es, eine Entzündungsreaktion zu induzieren, die sowohl die Tumorzellen eliminiert als auch eine Immunisierung gegen diese Zellen anregt, um das Progress-Risiko zu verringern.
Patienten sprechen unterschiedlich auf die Therapie an. Inwiefern das Mikrobiom in der Blase am Ansprechen auf BCG beteiligt ist, ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Die bisherigen Studien liefern dabei teils unterschiedliche Ergebnisse.
So konnte das Review von Heidar et al. (2023) zeigen, dass Patienten, die gut auf die BCG-Therapie ansprachen, eine vermehrte Präsenz von Serratia, Pseudomonas, Brochothrix und Negativicoccus in ihrem Mikrobiom aufwiesen. Laut dem Review von Pallares-Mendez et al. (2024) identifizierten drei Studien eine vermehrte Ansiedlung von Lactobacillus bei den BCG-Respondern, während eine Studie eine höhere Besiedlung von Aerococcus bei Non-Respondern feststellte. Insgesamt zeigte sich nach der BCG-Therapie insgesamt eine verminderte Variabilität des Mikrobioms.
Heidrich et al. konnten keine signifikante Veränderung des Mikrobioms nach den Instillationen feststellen. Eine höhere Häufigkeit von Lactobacillus, Cutibacterium und Streptococcus vor der BCG-Therapie zeigte sich jedoch mit einer besseren Wirksamkeit der Behandlung assoziiert. Ob die Bestimmung des Mikrobioms künftig als prognostischer Marker für das Ansprechen auf die Therapie oder das Progress der Erkrankung von Nutzen ist, bleibt weiterhin ein zu erforschendes Thema.
In den Studien wurden unterschiedliche Methoden zur Kulturgewinnung eingesetzt, darunter Mittelstrahlurin, Punktionsurin, Einmalkatheterurin und Gewebepräparate. Es bleibt jedoch unklar, inwieweit das Urinmikrobiom tatsächlich das Blasenmikrobiom widerspiegelt. Könnte es mukosaassoziierte Bakterien geben, die nicht im Urin nachgewiesen werden? Ein Studie von Pederzoli et al. zeigte eine 80%ige Ähnlichkeit der Mikrobiome in Urinkulturen, stellte jedoch fest, dass Akkermansia, Bacteroides, Clostridium sensu stricto, Enterobacter und Klebsiella in Gewebeproben vorhanden waren, jedoch nicht in den Urinkulturen. Aufgrund der hohen Invasivität von Gewebeentnahmen ist es jedoch schwierig, das Mikrobiom des Urothels bei „urologisch gesunden“ Patienten zu untersuchen.
In einigen Studien wurden Urinproben präoperativ vor einer TUR-Prostata bei Patienten mit BPH als Kontrollkohorte verwendet. Aufgrund der ausgeprägten Blasenentleerungsstörung lässt sich hier bereits eine veränderte Urinflora im Vergleich zu „urologisch gesunden“ Kontrollen vermuten.
Es erscheint auch plausibel, dass sich das Mikrobiom aufgrund eines Blasenkarzinoms verändert. Es bleibt jedoch unklar, ob die Dysbiose das Karzinom verursacht, eine Folge der Erkrankung ist oder ob es sich um eine Kombination aus beidem handelt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass verschiedene Interventionen wie Zystoskopie, transurethrale Resektion (TUR-Blase), Dauerkatheterisierung und mögliche präinterventionelle Antibiotikaprophylaxe Einfluss auf das Mikrobiom zum Zeitpunkt der Untersuchung haben können.
Seit der Entdeckung der 16S rRNA-Sequenzierung wissen wir, dass Urin – entgegen früherer Annahmen – nicht „steril“ ist. Das Urobiom umfasst mehr als 200 verschiedene Bakteriengattungen, die nicht zwangsläufig Infektionen verursachen. Es wird davon ausgegangen, dass nicht nur der Urin, sondern auch das Urothel von Bakterien besiedelt wird, die im Urin selbst nicht nachgewiesen werden können.
Die Zusammensetzung des Urobioms variiert je nach Geschlecht und verändert sich im Laufe des Lebens. Faktoren wie Ernährung, Rauchen, Antibiotikaeinnahme, Katheterismus und hormonelle Schwankungen beeinflussen das Mikrobiom erheblich. Ein Ungleichgewicht, auch als Dysbiose bekannt, könnte eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Harnwegsinfekten, Urolithiasis, interstitieller Zystitis und Blasenkarzinomen spielen. Bei Patienten mit Blasenkarzinom wurden unter anderem signifikant vermehrt Fusobacterium nucleatum, Corynebacterium, Acinetobacter und Rhodanobacter nachgewiesen, im Vergleich zu gesunden Kontrollen. Ein Zusammenhang zwischen Fusobacterium und kolorektalen Karzinomen ist bereits etabliert. Gleichzeitig waren Lactobacillus und Roseomonas in den Urinproben der Kontrollgruppen vermehrt vertreten.
Ob die Bestimmung des Mikrobioms künftig eine wertvolle Rolle bei der Einschätzung des Therapieansprechens auf BCG-Therapien spielen wird, bleibt noch offen. Langfristig könnte die Forschung zum Urobiom jedoch neue Perspektiven für Biomarker und Probiotika bieten, die nicht nur die Diagnose und Therapie von Blasenerkrankungen, sondern auch präventive Ansätze revolutionieren könnten.
Min K, Zheng CM (et al.): Differential Urinary Microbiome and Its Metabolic Footprint in Bladder Cancer Patients Following BCG Treatment, Int J Mol Sci., 2024, doi: 10.3390/ijms252011157
Pallares-Mendez (et al.): Insights into the Interplay between the Urinary Microbiome and Bladder Cancer: A Comprehensive Review, J Clin Med., 2024,. doi: 10.3390/jcm13164927
Lemberger, U. (2022): Mehr als die Summe seiner Teile: Das urogenitale Mikrobiom.
Yacouba A, Tidjani (et al.). Urinary microbiota and bladder cancer: A systematic review and a focus on uropathogens, Semin Cancer Biol., 2022, doi: 10.1016/j.semcancer.2021.12.010
Bučević Popović V. (et al.): The urinary microbiome associated with bladder cancer., Sci Rep., 2018, doi: 10.1038/s41598-018-29054-w
Heidrich V., Mariotti (et al.): The bladder microbiota is not significantly altered by intravesical BCG therapy Urol. Oncol, 2024.
Vendrell, J. A. (et al.): Dysbiosis in Human Urinary Microbiota May Differentiate Patients with a Bladder Cancer, International Journal of Molecular Sciences, 2024, https://doi.org/10.3390/ijms251810159
Colella M (et al.): An Overview of the Microbiota of the Human Urinary Tract in Health and Disease: Current Issues and Perspectives, Life (Basel), 2023, doi: 10.3390/life13071486
Kustrimovic N (et al.): The Urinary Microbiome in Health and Disease: Relevance for Bladder Cancer, Int J Mol Sci, 2024, doi: 10.3390/ijms25031732
Bildquelle: Barry Weatherall, Unsplash