KOMMENTAR | Bei den Kosten spitze, bei den Ergebnissen nur mittelmäßig – das deutsche Gesundheitswesen glänzt mit Ineffizienz. Warum uns die Kostenfrage dazu zwingt, Alternativen zu Omas Hirn-OP zu finden.
Fast nirgendwo auf der Welt wird mehr Geld für Gesundheit ausgegeben als in Deutschland. Gemessen am Anteil des BIP ist nur das Gesundheitssystem der USA teurer. Betrachtet man die absoluten Werte der Gesundheitsausgaben pro Kopf, liegt auch die Schweiz noch knapp vor Deutschland. Teuer muss nicht schlecht sein, wenn man dafür eine überdurchschnittliche Qualität erhält. Gerade beim Thema Gesundheit kann man argumentieren, dass es sich lohnt, hier besonders viel auszugeben, weil eine gute Gesundheit Voraussetzung für ein gutes Leben ist. Aber wer einen Porsche bezahlt, will dafür keinen Fiat bekommen – und genau hier liegt das Problem: Betrachtet man die Qualitätsindikatoren, so liegt Deutschland im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld. Die Lebenserwartung liegt etwa im OECD-Durchschnitt, die Sterblichkeit nach Schlaganfall ist etwas besser als der Schnitt, nach Herzinfarkt aber etwas schlechter. Alles in allem also gemischte Ergebnisse, die aber teuer erkauft werden. Eines ist das deutsche Gesundheitssystem deshalb auf jeden Fall: ineffizient.
Seit der Veröffentlichung der OECD-Studie „Health at a Glance“ mit ihren aus deutscher Sicht wenig erfreulichen Ergebnissen wird viel über die Gründe diskutiert. Deutschland hat Nachholbedarf bei der Digitalisierung – in Arztpraxen und Kliniken findet man immer noch regelmäßig Faxgeräte. Die Deutschen leben ungesund – zu oft stehen Schweinshaxe und eine Maß Bier statt Gemüse mit Vollkornnudeln auf dem Speiseplan. Es wird zu wenig für die Prävention getan, der demografische Wandel macht sich zunehmend bemerkbar und der Fachkräftemangel führt zu Problemen. Alle diese Gründe tragen einen Teil zur Entstehung des Problems bei. Dahinter steht aber ein großes Grundproblem, das der französische Ökonom Frédéric Bastiat schon Mitte des 19. Jahrhunderts in der Parabel vom zerbrochenen Fenster in anderem Zusammenhang beschrieben hat.
In der Parabel zerbricht der Sohn von Hans Biedermann aus Versehen eine Fensterscheibe, woraufhin Hans wütend wird, weil er 6 Francs für die Reparatur bezahlen muss. Freunde trösten ihn, dass diese 6 Francs dem Glaser zugute kämen, der ohne solche Unfälle keine Arbeit hätte. Das Missgeschick hätte also auch etwas Gutes. Bastiat stimmt zu, dass durch die Zerstörung der Scheibe die sechs Francs dem Glaser zugute kommen. Das sind die Kosten, die man sieht. Wäre die Scheibe aber nicht zerbrochen, hätte Hans die 6 Francs nicht für den Glaser ausgegeben, sondern sich z. B. neue Schuhe gekauft. Dem Schuster (oder einem anderen Betrieb) entgehen also die 6 Francs an zusätzlichem Einkommen. Das sind die Kosten, die man nicht sieht. Mit dieser Parabel beschreibt Bastiat das Konzept der Opportunitätskosten. Bei der Entscheidung für eine Alternative geht der mögliche Gewinn oder Nutzen der anderen Alternativen verloren.
In der Parabel vom zerbrochenen Fenster ist das Konzept unmittelbar einleuchtend, es klingt banal. In der Realität handeln wir jedoch oft so, als gäbe es keine Opportunitätskosten. Wir kaufen ein neues, teures Smartphone mit mehr Funktionen. Die Alternative, dass wir für das Geld auch einen Kurzurlaub hätten machen können, der uns nachhaltig glücklicher gemacht hätte, ist uns nicht bewusst. Oder wir abonnieren diverse Streamingdienste und verbringen viel Zeit damit, Serien zu schauen. Klar, das macht Spaß. Auch hier hätten wir alternativ etwas anderes tun können, was uns erfolgreicher, glücklicher oder gesünder gemacht hätte.
Das fehlende Bewusstsein für Opportunitätskosten macht sich nicht nur bei privaten Kauf- und Freizeitentscheidungen bemerkbar. Es ist auch die Hauptursache für die Ineffizienz des Gesundheitssystems. Hier führt der fehlende Blick auf die Opportunitätskosten dazu, dass immense Ressourcen nicht optimal eingesetzt werden. Während die Kosten, die man sieht, berücksichtigt werden, ist dies bei den Opportunitätskosten, die man nicht sieht, meist nicht der Fall. Ein Beispiel aus dem Krankenhaus verdeutlicht dies.
Eine 94-jährige Frau, die allein zu Hause lebt und sich bisher weitgehend selbst versorgt hat, wird mit einem schweren Schlaganfall ins Krankenhaus gebracht. Angehörige sind nicht erreichbar, eine Patientenverfügung liegt nicht vor. Im CT zeigt sich bereits teilweise abgestorbenes Hirngewebe. Ein noch größerer Schaden könnte möglicherweise durch einen Kathetereingriff verhindert werden, bei dem das Blutgerinnsel aus dem Gehirn entfernt wird. Trotz der aufgrund des hohen Alters und des CT-Befundes schlechten Prognose wird der Kathetereingriff durchgeführt, für den eine Narkose mit künstlicher Beatmung notwendig ist. Die Patientin wird einige Tage intensivmedizinisch behandelt, dann verschlechtert sich ihr Zustand weiter und sie verstirbt schließlich im Krankenhaus.
Die Behandlung der 94-Jährigen verursachte hohe Kosten (und einen hohen Personaleinsatz, ein belegtes Bett auf der Intensivstation etc.). Dies war den Behandlern bei ihren Entscheidungen für oder gegen eine therapeutische Maßnahme bewusst. Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass Intensivmediziner sogar dazu neigen, die Kosten ihrer Behandlung zu überschätzen. Auf der anderen Seite der Kosten steht der mögliche Nutzen: Es bestand die Chance, eine weitere Hirnschädigung zu verhindern und der Patientin vielleicht noch ein oder zwei Jahre ein Leben mit einem Mindestmaß an Lebensqualität zu ermöglichen. Diese Chance war zwar sehr gering, aber sie bestand. Wenn man also nur auf die Kosten schaut, die man sieht, kann man die Entscheidungen rechtfertigen. Aber was ist in diesem Fall das, was man nicht sieht? Der Ressourceneinsatz war hoch, die Arbeitszeit vieler Ärzte und Pflegekräfte war gebunden, ein Bett auf der Intensivstation war mehrere Tage belegt und ein durchschnittlicher Beitragszahler musste viele Jahre Krankenkassenbeiträge zahlen, um das alles zu bezahlen. All diese Ressourcen hätten anders eingesetzt werden können, zum Beispiel für die Behandlung eines Patienten mit besseren Erfolgsaussichten. Das ist das, was man nicht sieht.
Die fehlende Berücksichtigung von Opportunitätskosten macht sich auch auf gesundheitspolitischer Ebene bemerkbar. Zum Beispiel bei der Entscheidung, welche neuen Medikamente von den Krankenkassen erstattet werden. Neue Medikamente werden in Deutschland vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) bewertet. In dessen Nutzenbewertungsverfahren wird geprüft, ob das neue Medikament einen Zusatznutzen gegenüber der etablierten Therapie hat. Besteht dieser Zusatznutzen, darf das neue Medikament teurer sein und wird von den Krankenkassen trotzdem bezahlt. Bessere Medikamente dürfen auch mehr kosten – so weit, so verständlich. Was aber nicht bedacht wird: Vielleicht könnte man mit dem Geld an anderer Stelle mehr für die Gesundheit der Bevölkerung tun. Auch das sind Kosten, die man nicht sieht.
Eine kürzlich im Lancet erschienene Studie untersuchte den Nutzen neuer Medikamente und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: Sie fasste den Nutzen aller in England zwischen 2000 und 2020 neu zugelassenen und empfohlenen Medikamente zusammen und verglich den Gesamtnutzen mit dem möglichen Nutzen, den man erreicht hätte, wenn man das Geld in bereits etablierte Therapien investiert hätte. Und siehe da: Hätte man auf alle neuen Medikamente verzichtet und stattdessen an den etablierten Therapien festgehalten und diese mehr Patienten angeboten, wäre der Nutzen größer gewesen. Nach dieser Rechnung wurden durch die Kosten der neuen Medikamente über eine Million Lebensjahre in guter Gesundheit vernichtet. Anders ausgedrückt: Mit einer anderen Verwendung des Geldes hätte die Bevölkerung über eine Million Lebensjahre in bester Gesundheit gewinnen können. Einschränkend muss gesagt werden, dass es sich bei dieser Zahl um einen theoretischen Wert handelt. Die Option, auf alle neuen Medikamente zu verzichten und stattdessen mehr von den etablierten Therapien anzuwenden, wäre in der Realität nicht eins zu eins umsetzbar. Dennoch offenbart die Studie erneut die fehlende Beachtung der Opportunitätskosten.
Insgesamt zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, dass den direkt sichtbaren Kosten zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wird und dafür die Opportunitätskosten vernachlässigt werden. Jeder, der im Gesundheitssystem arbeitet, trifft täglich Entscheidungen, sei es in der direkten Patientenbehandlung, im Klinikmanagement oder in der Gesundheitspolitik. Würden bei all diesen kleinen und großen Entscheidungen die Opportunitätskosten besser berücksichtigt, wären die Patienten gesünder, die Mitarbeiter zufriedener und die Kosten geringer. Wann fangen wir damit an?
Quellen:
OECD. Health at a Glance 2023: OECD Indicators. OECD Publishing, 2023. doi: 10.1787/7a7afb35-en
Frédéric Bastiat: Was man sieht und was man nicht sieht. 1850. https://www.bastiat.de/was-man-sieht-und-was-man-nicht-sieht/
Lehut T et al. Cost awareness among intensivists in their daily clinical practice: a prospective multicentre study. Eur J Health Econ, 2024. doi: 10.1007/s10198-024-01686-y
Naci H et al. Population-health impact of new drugs recommended by the National Institute for Health and Care Excellence in England during 2000-20: a retrospective analysis. Lancet, 2024. doi: 10.1016/S0140-6736(24)02352-3
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