In Deutschland dürfen Organe nur nach dem Hirntod gespendet werden – das reicht nicht, um den chronischen Organmangel in den Griff zu bekommen. Erneute Vorschläge an die Politik orientieren sich an Beispielen aus dem Ausland.
Auf der herzchirurgischen Intensivstation liegt ein 28-jähriger Patient. Vor Kurzem hat er nach langem Studium seine erste Stelle als Jurist angetreten, vor gut einem Jahr wurde seine Tochter geboren. Er ist ambitionierter Hobbysportler und hat beim Training einen Leistungsabfall bemerkt, kurz darauf wird er mit Fieber, Luftnot und Brustschmerzen ins Krankenhaus gebracht. Die Echokardiographie zeigt eine hochgradig eingeschränkte Auswurffraktion von nur 10 %. Sein Herz kontrahiert nicht mehr wie bei Gesunden während des Pumpvorgangs, um Blut durch den Körper zu pumpen, sondern kann sich nur noch marginal bewegen – bei weitem nicht genug, um den Körper mit Blut und Sauerstoff zu versorgen. Als Ursache wird bei der Biopsie eine postvirale Myokarditis festgestellt. Eine realistische Chance auf Besserung besteht nicht – die einzige Option ist eine Herztransplantation.
Szenenwechsel auf die neurologische Intensivstation: Hier wird eine 52-jährige Patientin behandelt. Sie ist begeisterte Motorradfahrerin und verbringt jedes Jahr viele Wochen auf langen Touren. Bei einem Unfall hat sie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit intrazerebraler Blutung erlitten. Wegen einer Hirnschwellung wird die Schädeldecke operativ entfernt, die zunehmende Schwellung führt jedoch zu einer weiteren Hirnschädigung. Trotz langwieriger intensivmedizinischer Behandlung bleibt die Patientin auch ohne sedierende Medikamente schwer vigilanzgemindert. Prognostisch ist auch bei Fortsetzung der Maximaltherapie von einem Fortbestehen schwerster neurologischer Defizite auszugehen. In Gesprächen mit den Angehörigen wird deutlich, dass ein solches Leben für die Patientin nicht lebenswert gewesen wäre. Sie hat mehrfach geäußert, dass sie ihre Lebensqualität aus dem Reisen bezieht und ohne diese Möglichkeit nicht mehr leben möchte.
Die Patientin hat auch einen Organspendeausweis und die Angehörigen treten mit dem Wunsch an die Ärzte heran, dass die Patientin in einer solchen Situation ihre Organe hätte spenden wollen, um anderen Menschen ein Weiterleben zu ermöglichen. Die Hirntodkriterien sind jedoch nicht erfüllt und werden absehbar auch nicht mehr erfüllt sein. Die Therapie wird entsprechend dem Willen der Patientin auf ein palliatives Konzept umgestellt und die Patientin verstirbt, ohne dass ihrem Wunsch nach Organspende entsprochen wird. Der junge Mann auf der herzchirurgischen Intensivstation oder ein anderer anonymer Patient auf der Transplantationsliste wartet weiter auf ein Spenderorgan – mit stetig abnehmenden Überlebenschancen.
Beide Patientengeschichten werden auf dem DGN-Kongress von Farid Salih, Neurologe und Intensivmediziner an der Charité, vorgestellt. Er stellt die Frage, ob eine Organspende der Motorradfahrerin ethisch vertretbar oder gar geboten sei. Schließlich habe die Patientin zu Lebzeiten ausdrücklich den Wunsch geäußert, dass ihre Organe nach ihrem Tod gespendet werden. Eine Spende wäre in diesem Fall nur möglich gewesen, wenn eine Organentnahme nach kontrolliertem Herzkreislauftod in Deutschland möglich wäre. Der chronische Mangel an Spenderorganen in Deutschland ist seit Jahren ein Dauerthema. Auf dem DGN-Kongress soll mit der Session zur Organspende nach Herz-Kreislauf-Stillstand ein gesellschaftlicher Denk- und Diskussionsprozess angestoßen werden.
Die Voraussetzungen für eine Organspende sind in Deutschland im Transplantationsgesetz geregelt. Danach muss vor einer Organentnahme der „endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“, also der Hirntod, festgestellt werden. Eine Spende nach Herzkreislaufstillstand ist dagegen rechtlich nicht vorgesehen. Ganz anders in unseren Nachbarländern. Ob Spanien, England, Frankreich oder die Niederlande: Überall wird die Organspende auch nach einem kontrollierten Herztod praktiziert.
Stellt sich im Behandlungsverlauf heraus, dass eine weitere lebenserhaltende Behandlung nicht im Sinne des Patienten ist, wird unabhängig von einer möglichen Organspende das Therapieziel geändert – das Sterben des Patienten wird zugelassen. Wenn gleichzeitig eine Organspende gewünscht und möglich ist, wird der Sterbeprozess für den kontrollierten Herzkreislauf-Tod so geplant, dass ein würdevolles Sterben ermöglicht wird und gleichzeitig die Organe in einem möglichst guten Zustand erhalten bleiben. Der Patient wird in den Operationssaal gebracht, wo lebenserhaltende Maßnahmen wie künstliche Beatmung und medikamentöse Kreislaufunterstützung beendet werden. Es folgt eine Wartezeit von mindestens 5 Minuten, in der der irreversible Kreislauf- und Atemstillstand festgestellt wird. Unmittelbar nach Ablauf der Wartezeit wird mit der Organentnahme begonnen.
Ein mögliches Problem bei dieser Vorgehensweise ist der Tod in der sterilen und anonymen Umgebung des Operationssaals. Dies könnte von den Angehörigen als wenig würdevoll empfunden werden. Andererseits findet auch beim Hirntod der Tod in der ebenfalls nicht ruhigen und friedlichen Umgebung der Intensivstation statt. Zudem ist das Konzept des Hirntodes oft unintuitiv und emotional weniger leicht zu verstehen und zu akzeptieren als das des Herztodes. Wenn der Hirntod eingetreten ist, ändert sich von außen betrachtet nichts. Beim Herz-Kreislauf-Stillstand hingegen hört der Patient auf zu atmen, das Herz hört auf zu schlagen. Das sind genau die Merkmale, die die meisten Menschen mit dem Tod verbinden. So kann es leichter fallen, den Tod zu akzeptieren und Abschied zu nehmen.
Nicht nur auf dem DGN-Kongress wird über die Voraussetzungen für eine Organspende diskutiert. Auch in der Politik ist das Thema aktuell. In einem Positionspapier forderte die FDP im Herbst dieses Jahres, die Voraussetzungen für eine Organspende um den kontrollierten Herz-Kreislauf-Stillstand zu erweitern. Damit solle die Zahl der Spender erhöht und gleichzeitig „dem individuellen Selbstbestimmungsrecht auch im Zusammenhang mit dem eigenen Tod“ Rechnung getragen werden. Seit der Veröffentlichung des Positionspapiers ist das Thema wieder von der politischen Bühne und die FDP aus der Regierung verschwunden. Die Chancen für eine erneute Regierungsbeteiligung der FDP sind gering, andere Parteien haben das Thema bisher nicht aufgegriffen. Umso wichtiger sind Veranstaltungen wie der DGN-Kongress, um auf das Thema aufmerksam zu machen und eine gesellschaftliche Diskussion anzuregen.
Ein möglicher Grund für die mangelnde Begeisterung für das Thema in der Politik könnte das in den letzten Jahren gewachsene Misstrauen gegenüber Politik, Wissenschaft und Medizin sein. Die Bereitschaft zur Organspende ist seit Jahren gering. Die Ablehnung einer Organspende ist häufig nicht nur auf eine „Entscheidungsfaulheit“ zurückzuführen, der man mit einem Wechsel von der Zustimmungs- zur Widerspruchsregelung begegnen könnte. Manche Menschen lehnen eine Organspende ab, weil sie befürchten, dass nicht alles für ihre Heilung getan wird, wenn sie als mögliche Organspender identifiziert werden. Auch wenn dies aus der Sicht eines Mitarbeiters im Gesundheitssystem absurd erscheinen mag, müssen diese Einstellungen wahrgenommen und berücksichtigt werden. Auch wenn dies nicht offen als Argument angeführt wird, dürfte ein Grund für die Zurückhaltung die Befürchtung sein, dass bei einer Gesetzesänderung die Organspendebereitschaft weiter sinken könnte.
Bildquelle: Levi Meir Clancy, Unsplash