Von Ärzten verlangt man, dass sie mit Patienten sensibel umgehen. Derweil haben Patienten offenbar einen Freifahrtsschein – und spucken, urinieren, schlagen oder bedrohen. Wir haben euch gefragt, wie ihr Gewalt im Alltag erlebt. Das sind eure Antworten.
Ob Faustschläge gegen Rettungssanitäter, Tritte gegen Klinikpersonal oder Drohungen gegen Niedergelassene – erschreckende Beispiele von Gewalt gegenüber Ärzten gibt es traurigerweise mehr als genug. Unter allen Berufen, bei denen Kontakt zu Kunden oder Patienten besteht, sind Gesundheitsberufe diejenigen, die es am häufigsten und schwersten trifft. Im Rahmen einer aktuellen Forsa-Umfrage gab knapp die Hälfte (49 %) aller Menschen im Gesundheitswesen an, bereits Opfer gewesen zu sein. 60 % von ihnen erleben dies sogar monatlich. Eine weitere Erhebung der Ärztekammer Westfalen-Lippe untermauert die Zahlen und Angaben der Ärzte. Jeder vierte Arzt soll demnach bereits Opfer körperlicher Gewalt geworden sein. Wie ihr zu dem Thema steht und ob ihr schon Erfahrungen mit Gewalt gemacht habt, wollten wir von euch in einer eigenen Umfrage erfahren.
Es zeigt sich: Auch ihr untermauert die Zahlen und Entwicklungen. Von knapp 200 Befragten haben 85 % berichtet, dass sie bereits Opfer von Gewalt in irgendeiner Form waren. Vor allem psychische bzw. verbale Gewalt ist mit 41,6 % besonders häufig vertreten. Doch auch fast jeder Fünfte (19,7 %) wurde bereits körperlich angegriffen.
Die Folge: Es gibt bereits Einschränkungen, wann Ärzte sich noch sicher fühlen bei der Arbeit. Ohne Bedenken und Angst sind nur 33,5 % der Befragten, während 44,5 % sich nur tagsüber und in der Nähe von Kollegen sicher fühlen, 12,1 % das von der Art des Patienten abhängig machen und schwere Fälle lieber weiterdelegieren. 9,8 % fühlen sich erst wieder sicher, seit sie einen Selbstverteidigungs- und/oder Kommunikationskurs besucht haben. Angesichts eurer Erlebnisberichte aus dem Alltag scheint dies so traurig wie nötig. Eure Berichte, bei denen vor allem Patienten sich nicht im Griff haben:
„Ein Beispiel waren Angehörige die meinten wir behandeln den Patienten nicht richtig, diese schlossen uns dann in der Wohnung ein. Ein anderes Beispiel war als der Patient (nicht alkoholisiert, keine Drogen, keine bekannten psychischen Erkrankungen – im Nachgang erfahren) plötzlich auf uns einschlägt und nach uns tritt.“
„Ein Patient hat versucht, mich von hinten zu erwürgen, der hat sich richtig angeschlichen und dann zugepackt. Einer hat mir ein Skalpell ins Bein gestochen, da hab ich jetzt eine Narbe, der war aber auch intoxikiert. Ein weiterer hat mir in den Bauch getreten wegen der langen Wartezeit. Der kam sogar als Schockraum, also kann keiner sagen, dass der lange warten musste.“
„Ein Bürger muslimischer Herkunft hatte eine Erkrankung, die sich letztlich als Morbus Behcet herausstellte. Beim Aufklärungsgespräch und der Information, dass die Krankheit in muslimischen Ländern entlang der Seidenstraße, aber nicht bei den hier Lebenden verbreitet sei, kam er sich religiös, politisch und von der Herkunft diskriminiert vor und versuchte, diese Ehrbeleidigung mit Faustschlägen an mir auszumerzen. Den Rest klärte die Polizei.“
„Drohungen, Nötigung (Weg versperren, Einkesseln durch eine Gruppe), Einschüchterungsversuche, Bestechungsversuche.“
„Ein Patient legte seinen Waffenschein auf den Anmeldungstresen und bedrohte uns, dass er davon Gebrauch machen würde, wenn er nicht sofort einen Termin bekommen würde.“
„Urinproben wurden auf die Anmeldung geworfen, Rezepte zerrissen und geworfen, geschimpft.“
„Angehörige waren von Grund auf in einer aggressiven Grundhaltung und hatten ihren eigenen, nicht realistischen Plan der Behandlung. Da man diesen Plan medizinisch nicht umsetzen konnte, wurden wir aufs Übelste beschimpft und beleidigt.“
„Patient hat mit einer Ohrfeige gedroht, weil ich einen beherdeten und lockeren Zahn nicht erhalten wollte. Ich habe mich und meiner Aufmerksamkeit dem Patienten entzogen. Dann ging er.“
„Sobald es auf Station nicht nach dem Willen der Patienten geht, wird mal mehr oder weniger beleidigt. Und das fängt oft schon an, wenn man den Patienten auf dem Weg zur 20. Zigarette bittet, etwas zu warten, weil in Kürze der Oberarzt zur Visite kommt. Da ist der Hinweis, dass man sich als Patient doch von dahergelaufenen Betthäschen in weiß nichts vorschreiben lasse noch sehr höflich. Nüchtern bleiben vor OP ist auch reine Bosheit und wird mit der Drohung, dass man bestimmt rausbekäme, wo ich wohne und dann meine Kinder auch mal nicht zu essen bekommen, unterstrichen. Angriffe mit leeren (Glas-)Flaschen und Regenschirmen gehören auch gerne ins Repertoire, genauso wie das Grapschen an Brust oder Gesäß mit dem Kommentar: ,Hab dich nicht so, liege schließlich schon lange genug hier und habe auch meine Bedürfnisse.’ Die Bemerkungen beim Anlegen einer Urinflasche gehen oft in noch eindeutigere Richtungen. Zum Standard gehören mittlerweile: Schlagen, Haare ziehen, bespucken, schubsen, bewusstes Erbrechen in meine Richtung oder urinieren mit dem Versuch mich zu treffen..“
Doch die Gewalt kann auch von anderer Seite kommen:
„Mobbing seitens Kollegen, die mich beschimpft, beleidigt und erniedrigt haben. Das ging bis zur Kündigung. Es ging den Kollegen nicht schnell genug und der eigentliche Ansprechpartner war nicht ansprechbar bzw. auf Seminar oder im Urlaub.“
Auch wenn Übergriffe unter Kollegen existent sind und nicht klein- oder weggeredet werde sollten, zeigt sich: Die mit Abstand größte Gefahr geht von Patienten und Angehörigen aus. Wir haben euch daher gefragt: Wie kann es dazu kommen, dass diejenigen zum Feindbild werden, die zum helfen da sind? Was läuft da falsch?
Eure Vermutungen und Erfahrungen:
„Unzufriedenheit, Mentalitätsunterschiede, hohe Erwartungshaltung, fehlende Terminkapazitäten.“
„Psychose eines Patienten, der Zwangsmaßnahmen für einen anderen verlangte und ein ,Nein’ nicht akzeptieren wollte.“
„Patient wollte schneller behandelt werden.“
„Angehörige waren mit der rettungsdienstlichen Versorgung nicht einverstanden. Sie wollten einen männlichen NotSan. Es wurde die weitere Behandlung abgelehnt, der Einsatz wurde einvernehmlich abgebrochen. Ich wurde dann mit einem Tritt von hinten die Treppe hinuntergestoßen.“
„Patienten mit Migrationshintergrund und die dazugehörigen Angehörigen. Fühlten sich falsch und nicht schnell genug behandelt.“
„Gefühl von Fehlbehandlung, fehlende Akzeptanz des Gesundheitssystems, Aggression ohne bestimmen Fokus (wir waren halt gerade da).“
„Schlamperei, Personalmangel, Ellbogenprinizp, Karriere auf Kosten Anderer, Ausländerfeindlichkeiten, lange Wartezeiten auf Termine, nicht erfüllbaren Patientenansprüche …“
„Durchgangssyndrom, Alkoholabusus, Frustration der Patienten.“
„Mangelnder Geburtsfortschritt und hilfloser werdender Vater.“
„Angehörige hatten die Vorstellung, dass der Patient durch die Krankenversicherung 1:1 Betreuung erhält und alles bekommt, was er sich wünscht. Keine Diskussion möglich.“
„Emotionale Überforderung, geringe Frustrationstoleranz, fehlende Einsicht und Verweigerung von Wunschverschreibungen.“
Eure Einschätzungen zeigen: Insbesondere die Selbstwahrnehmung, ein stark verändertes Anspruchsdenken gegenüber der Medizin und ihrer Vertreter sowie mangelnde Empathie und Bewusstsein für das System führen häufig zur Eskalation. Dass es in Zukunft eine sinnvolle, perspektivische Veränderung geben muss, scheint unausweichlich. Zwar hat die Politik das Problem erkannt und auf Bundes- wie regionaler Ebene Pläne vorbereitet. Es zeigt sich jedoch – und so auch eure Antwort – dass es Awareness in der Bevölkerung braucht, um die Dinge grundlegend zu ändern (72,8 %). Strukturelle Veränderungen sieht ebenfalls ein Großteil von euch als notwendig an: Fast die Hälfte von euch (42,2 %) fordert wesentlich härtere Strafen und 33,5 % sind für eine Einbindung der Thematik in die Curricula der Gesundheitsberufe. Daneben müsse es eine bessere Patientensteuerung (28,9 %) geben und fast jeder Fünfte fordert kostenlose Sicherheitsdienste in den Einrichtungen.
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