Weihnachten ist die Zeit des Schenkens. Manche Ärzte spenden ihre Zeit in ehrenamtlichen Sprechstunden für wohnungslose Menschen. Wie solche Projekte aussehen können, erfahrt ihr hier.
In Deutschland wurden Ende Januar 2024 rund 439.500 wohnungslose Menschen registriert. Die Statistik erfasst Personen ohne eigene Wohnung, die in entsprechenden Einrichtungen untergebracht waren. Obdachlose Personen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, sowie Formen von verdeckter Wohnungslosigkeit (bei Bekannten oder Angehörigen untergekommene Personen) werden in der Statistik nicht berücksichtigt. Entsprechend hoch gestaltet sich die Dunkelziffer. Der Altersdurchschnitt betrug 31 Jahre, 40 % der gemeldeten Personen waren unter 25 Jahre, 5 % über 65 Jahre alt. Mehr als die Hälfte waren Männer, da Frauen aus Furcht vor sexualisierter Gewalt häufig verdeckt wohnungslos leben.
Ein soziales Projekt im Südwesten zeigt einen herausragenden Einsatz für die Ärmsten unserer Gesellschaft. Vor 25 Jahren fanden ein selbst von Wohnungslosigkeit betroffener Mann, der als Pflegefachkraft ausgebildet war, und ein Allgemeinarzt zueinander. Gemeinsam entwickelten sie die Idee der „Pflasterstube“, in der wohnungs- bzw. obdachlosen Menschen eine medizinische Basisversorgung angeboten wird. Hinzu kamen im Laufe der Jahre ein eigenes Fahrzeug, das „Pflastermobil“, um Brennpunkte vor Ort aufzusuchen.
Seither bieten Ärzte gemeinsam mit einer festangestellten Pflegefachkraft eine wöchentliche Sprechstunde an. Das Team wird durch eine Zahnärztin, die ihre ambulante Behandlungseinheit mitbringt, ergänzt. Für spezielle Probleme, die das Equipment einer Facharztpraxis benötigen, sind niedergelassene Kollegen bereit, wohnungslose Menschen akut zu behandeln. Manche Patienten suchen auch ihre eigenen Ärzte auf, vorausgesetzt sie sind versichert. Mit einem Sonderrezept können Medikamente in einer Partnerapotheke abgeholt werden, der eigens gegründete Förderverein begleicht anfallende Rechnungen. Ein Großteil der Kosten wird über Spenden und ehrenamtliches Engagement ermöglicht. In der räumlich angeschlossenen Wärmestube erhalten Bedürftige eine warme Mahlzeit, sanitäre Angebote und frische Kleidung. Im Winter werden in gesonderten Räumen Schlafplätze als Erfrierungsschutz angeboten.
Die Sprechstunde für wohnungs- und obdachlose Menschen ist wie das Abtauchen in eine andere Welt. Im Behandlungsraum befindet sich ein Arzneischrank mit Basismedikamenten und Material zur Wundversorgung. Stethoskop, Mundspatel und Handleuchte sind einfache, aber effektive Hilfsmittel. Wer eine apparative Diagnostik wie Ultraschall vermisst, muss sich an seine manuellen und sensitiven Grundkenntnisse erinnern.
Anlässe, weshalb Patienten in die Pflasterstube kommen, unterscheiden sich zum einen nicht wesentlich von einer normalen Hausarztpraxis, zum anderen gibt es situationsbedingte Häufungen. Im Winter stehen Infekte im Vordergrund, bedingt durch die Lebenssituation.
Da ist zum Beispiel Paul, Anfang 30, dessen Lächeln auf Anhieb sympathisch wirkt. Nichts an ihm lässt auf eine Obdachlosigkeit schließen. Er leidet an einem heftigen Atemwegsinfekt mit Gliederschmerzen und erhöhter Temperatur. Nach Auskultation und Racheninspektion erhält er Medikamente und die Empfehlung, wiederzukommen wenn keine Besserung eintritt. Die Frage, ob er wenigstens einen guten Schlafsack habe, verneint er. „Ich schlafe im Zelt unter Decken.“ Da für die nächsten Tage Minustemperaturen angekündigt sind, wird ihm die Unterbringung im Erfrierungsschutz ans Herz gelegt. Der Gedanke, dass er vielleicht eine weitere Nacht im Zelt verbringen könnte, lässt ein ungutes Gefühl bei allen im Raum zurück.
Wohnungs- und obdachlose Menschen leiden unter Erfrierungszeichen, Abszesse und Blasen an den Extremitäten, haben teils infizierte Verletzungen, die chirurgisch und medikamentös versorgt werden müssen oder kämpfen mit Substanzabhängigkeiten samt internistischen Begleiterkrankungen. Hautprobleme und internistische Grunderkrankungen sind auf der Tagesordnung, aber auch Herzinfarkte und neurologische Erkrankungen kommen vor. „Eigentlich alles Querbeet“, meinen die ehrenamtlich tätigen Mediziner, die sonst als Ärzte in der Allgemeinmedizin, Gynäkologie oder Pädiatrie arbeiten. Es kommen vor allem Männer, da Frauen aus Furcht vor sexualisierter Gewalt häufig verdeckt wohnungslos leben. Gynäkologische Untersuchungen und Schwangerschaftsvorsorgen übernehmen Frauenärztinnen in niedergelassenen Praxen.
Manche der Patienten kommen immer wieder, andere sind auf der Durchreise. Vor der Pflasterstube, die sich am Rande der Innenstadt befindet, trifft man sich untereinander oder lebt in der näheren Umgebung. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen.
Als Helden möchten die Ärzte nicht bezeichnet werden. Ihren ehrenamtlichen Einsatz begründen sie folgendermaßen: „Ich möchte mit meiner Arbeit wieder die Würde bei meinen Patienten hervorheben, die ihnen zusteht.“ Oder: „Ich möchte dazu beitragen, meine Patienten wieder ein Stück in die Gesellschaft zu integrieren.“
Auf die Frage, ob sie bisher bei ihrer Arbeit mit Gewalt konfrontiert wurden, berichten sie zwar von tätlichen Auseinandersetzungen zwischen ihren Patienten, aber nie gegen sie als Helfer: „Bei unserer Arbeit kommt Respekt zurück, aber keine Gewalt gegen uns.“
Vom Förderverein finanzierte Projekte, wie ein gemeinsames Weihnachtsessen, unterstützen das Miteinander. Unterstrichen wird der Aspekt von Würde, wenn Mitarbeiter der Pflasterstube auch an Beerdigungen ihrer Patienten teilnehmen.
Deutschlands wohl bekanntester Straßen-Doc Gerhard Trabert, Arzt und Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie, behandelt seit mehr als 20 Jahren wohnungs- und obdachlose Personen. Auch er betont die respektvolle Begegnung auf Augenhöhe, mit der er den Menschen ein Stück Würde zurückgeben möchte und dabei selbst bereichert wird:
„Nirgendwo habe ich so viel Wärme, Tiefe und Liebe gespürt wie in der Begegnung mit ,armen Menschen‘. Ich erhalte Reichtum und Hoffnung, wo ich Armut und Hoffnungslosigkeit erwartete – ohne das Ausblenden von Diskriminierung, Stigmatisierung, Not, Leid und Tod. In meinem Erfahren von Armut stehen Fragen existenzieller Art im Vordergrund, ohne zu erdrücken. Für Oberflächlichkeit, für Small Talk ist hier kein Platz, und doch ging für mich die Leichtigkeit und die Lebensfreude nie verloren. Nein, ich glaube, ich habe sie gerade hierdurch gewonnen.“
Der Blick über den eigenen Tellerrand lässt einen das eine oder andere „Luxusproblem“ vergessen und die Sichtweise auf das Wesentliche neu justieren. Widrigkeiten im Berufsalltag – KV, Verwaltung, Klinikreform – werden kleiner, wenn man das große Ganze sieht. Wir sind Ärzte, Pflegefachkräfte und Mitarbeitende in sozialen Berufen geworden, um Menschen in Notlagen zu helfen. Hierzu gehören besonders diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Wohnungs- und obdachlose Personen, die wie in der traditionellen Weihnachtsgeschichte ohne Herberge sind, verdienen eine würdevolle Begegnung auf Augenhöhe. Auch wenn die Helfer sich in diesem Fall nicht als Helden sehen wollen, sind sie es dennoch.
Bildquelle: Patrycja Jadach, Unsplash