Kann Alkohol in geringer Dosierung gesund sein, gar das Leben verlängern? Das galt lange als Konsens – doch neue Erkenntnisse lassen kein gutes Haar an der beliebtesten Droge der Deutschen.
Für Eilige gibt‘s am Ende des Artikels eine Zusammenfassung.
„Ein Bier ist Medizin – 10 Biere sind Gift!“ Dieser Satz galt in Kindertagen des Autors dieses Beitrags in Ärztekreisen als weitgehender Konsens. Nun gab es in den 1960ern noch keine Flut an peer-reviewed RCTs, die statistisch signifikante Aussagen zu Dosis-Wirkungsbeziehungen hinsichtlich des Alkoholkonsums unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Störfaktoren beleuchteten. Nichtsdestotrotz waren die dramatischen Folgen des chronischen Alkoholabusus mit den verschiedenen Formen der alle Bevölkerungs- und Bildungsschichten betreffenden Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit erkannt. So weit, so klar.
Aber am anderen Ende der Skala – dem einen Bier zum Feierabend und erst recht dem so gut beleumundeten Glas Wein zum Tagesausklang – hat die medizinische Forschung besonders innerhalb der letzten Dekade für Unruhe gesorgt. Die Ansicht einer gesundheitsfördernden Wirkung, ja sogar das Unbedenklichkeitsmanifest kleiner Alkoholdosen, sind ins Wanken geraten.
Der von der WHO alljährlich herausgegebene „Globale Statusbericht über Alkohol, Gesundheit und die Behandlung von Substanz-Konsumstörungen“ weist seit Jahren eine nahezu unverändert hohe Zahl von global etwa 2,6 Millionen alkoholbedingten Todesfällen aus. Das entspricht rund fünf Prozent der jährlichen Todeszahl weltweit. Hinzu kommt eine enorme Krankheitslast, die sich besonders auf Herzkreislauf-Schäden, Organfunktionsstörungen und verschiedene Krebsarten bezieht. Als alleiniger oder zumindest Mitverursacher lässt sich Alkoholabusus vielfach ausmachen. Aber bei welchen Konsumgewohnheiten, welcher Tages- oder Wochendosis beginnt dieser? Gibt es eine Schwellendosis und spielt die Art des alkoholischen Getränks eine Rolle? Wirkt der seriöse Wein anders als die gleiche Alkoholdosis in Form von jovialem Bier oder armseligem Fusel aus dem Tetrapack?
Basierend auf den Ergebnissen einer prospektiv-longitudinalen Lancet-Studie aus 2018 (Wood et al.) hat sich eine Unbedenklichkeitsgrenze von 100g Reinalkohol pro Woche etabliert. Für Frauen wird vielfach nur die Hälfte als Limit definiert. 20g bzw. 10g Alkohol an höchstens fünf Tagen in der Woche werden dieser Schwellendosis gerecht. Praktisch bedeutet das beispielsweise täglich ein großes Bier (500ml) ODER ein „Viertel“ Wein für Männer bzw. ein kleines Bier (250ml) ODER ein „Achtel“ Wein für Frauen – und für beide Geschlechter zwei Tage Abstinenz. Mag dieses empfohlene Limit dem einen oder anderen Genusstrinker bereits recht niedrig erscheinen, geben die aktuellen Empfehlungen noch strengere Beschränkungen vor, oder um es mit Paracelsus zu sagen: „Nur die Null-Dosis macht, dass Alkohol kein Gift ist“.
Mit einer 2023 in The Lancet Public Health veröffentlichten Erklärung (Anderson et al.) revidiert die WHO nun auf Basis einer Langzeitevaluation und Schadensdokumentation das Unbedenklichkeitspostulat kleiner Alkoholdosen. Kausal mit sieben Krebsarten (weibliche Brust, Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf, Speiseröhre, Leber, Darm) assoziiert, stuft die zur WHO gehörende »Internationale Krebsforschungsagentur IARC« Alkohol als Karzinogen der Kategorie 1 ein – also auf einer Ebene mit Asbest und Tabak. Dies sowie ein Bündel weiterer organischer und psychischer Erkrankungen machten Alkoholkonsum zu einem der größten Risikofaktoren für vorzeitigen Tod und Behinderung. So beträfen 23.000 von insgesamt 172.600 EU-weit im Jahr 2017 dokumentierten alkoholbedingten Krebsfällen Personen mit leichtem bis moderatem Alkoholkonsum von maximal 20g pro Tag. Mehr als ein Drittel davon (8.500) konsumierten unter 10g pro Tag (Rovira & Rehm). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob ein sicherer, nicht mit erhöhten Krankheitsrisiken assoziierter Low-Dose-Alkoholkonsum und damit eine Unbedenklichkeitsschwelle überhaupt definierbar ist.
Während jegliche Belege für günstige Wirkung niedrig dosierten Alkohols im Zusammenhang mit Krebserkranken fehlen, gibt ein eine Reihe von Studien, die dem regelmäßigen, aber geringen Alkoholkonsum zumindest schwache protektive Effekte gegenüber Herzkreislauf-Erkrankungen (Ronksley et al.,) und Typ-2-Diabetes (Schrieks et al.) zuschreiben. Allerdings zeigt die WHO-Evaluation, dass die protektiven Effekte kleiner Alkoholmengen oft nur auf bestimmte Alterskohorten und/oder geografische Regionen beschränkt sind und gelegentliches „Über-die-Stränge-Schlagen“ ausreicht, um vermeintliche Schutzwirkungen in kardiovaskuläre Gefahren zu verwandeln. (Rehm et al, Roerecke & Rehm). Eine Forschergruppe um Dr. Tim Stockwell vom Canadian Institute for Substance Use Research ist der Frage nachgegangen, ob Studien, die geringen Alkoholdosen gesundheitsförderliche Wirkungen zuschreiben, bestimmte Charakteristika im Design aufweisen, die sie von Arbeiten unterscheiden, die keine Benefits belegen. Für ihre im Journal of Studies on Alcohol and Drugs publizierte systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse (Stockwell et al., 2024) wertete das Team 107 prospektive Langzeit-Kohortenstudien aus, die Assoziationen zwischen Alkoholkonsum und Gesamtmortalität bestimmten. Über 4,8 Millionen Personen und gut 425.000 dokumentierte Todesfälle flossen in die Analyse ein. Das besondere Augenmerk lag auf dem Vergleich der Studiendesigns. Die konkrete Frage lautete: Weisen Studien, die moderaten Alkoholkonsumenten gegenüber Abstinenzlern ein längere Lebenserwartung und niedrigere kardiovaskuläre Krankheitsrisiken bescheinigen, womöglich ein anderes Management der potenziellen Störgrößen auf als Studien, die geringen Alkoholdosen keinerlei positive Wirkung attestieren?
„Trinken Sie Alkohol?“ „Nein, keinen Tropfen – nur Bier!“ Wenn hartgesottene, nur hochprozentige Spirituosen als „Alkohol“ einstufende Gerstenbräugenießer die ärztliche Frage nach Alkohol verneinen, ist das etwas anderes als die Abstinenz-Definition in wissenschaftlichen Studien. Aber auch diese ist keineswegs so uniform wie man denken mag: So haben bereits frühere systematische Reviews und Metaanalysen zur Assoziation zwischen Alkoholkonsum und Gesamtmortalität die maßgebende Bedeutung der Referenzgruppen-Definition „Abstinenzler“ herausgestellt (Fillmore et al.; Naimi et al.).
Ein typisches Beispiel ist der nicht seltene Fall von Referenz-Kohorten vorwiegend älterer Personen, die aufgrund einer bereits manifestierten Erkrankung ihren Alkoholkonsum eingestellt haben. Dass eine solche Abstinenzler-Fraktion eine höhere Krankheitslast und Mortalität aufweist als gesunde Wenig-Alkohol-Konsumenten, verfälscht die wahren Verhältnisse. Prof. Timothy Naimi und Kollegen vom Boston Medical Center haben in einer 2017 publizierten theoretischen Analyse gezeigt, wie sich die Auswirkungen nicht berücksichtigter Störgrößen, die den Auswahlkriterien der Referenzkohorte geschuldet sind („Selection Bias“), besonders bei Langzeitstudien mit älteren Probanden potenzieren und dann den irrtümlichen Anschein gesundheitlicher Benefits moderaten Alkoholkonsums vortäuschen. Dieses Rechenmodell wird durch empirische Evidenzen gestützt, die zum einen zeigen, dass in Studien mit Ü55-Alterkohorten in steigendem Maße Personen die Abstinenzler-Referenzkohorten dominieren, die erst spät und aus medizinischer Notwendigkeit heraus ihren Alkoholkonsum eingestellt haben (Stockwell et al., 2016). Zum anderen ergab eine systematische Überprüfung und Metaanalyse, dass der vermeintliche gesundheitliche Benefit kleiner Alkoholdosen seine Signifikanz verliert, wenn „echte“ (lebenslange) Abstinenzler bzw. jüngere Probanden, die noch nicht aus medizinischen Gründen dem Alkohol entsagen mussten, die Referenzkohorte repräsentieren (Zhao et al. 2023).
Die aktuelle kanadische Metaanalyse der Designs von 107 Studien stellt jenen Arbeiten, die dem niedrig dosierten Alkoholkonsum eine mortalitätssenkende Wirkung attestieren, schlechte Noten aus. Typisch für diese Studien sei eine oder mehrere der folgenden Schwächen:
In Arbeiten ohne diese Makel war der vermeintlich lebensverlängerte Benefit genügsamen Alkoholkonsums nicht nachweisbar oder verkehrte sich (besonders bei jungen Kohorten) ins Gegenteil. Die Annahme eines gesunden, lebensverlängernden Alkoholkonsums sei nicht haltbar und stützt das Ergebnis der WHO-Evaluation.
So kommt die WHO-Evaluation zum Schluss: „Beim Alkoholkonsum gibt es keine gesundheitlich unbedenkliche Menge. Alkohol ist eine giftige, psychoaktive und abhängig machende Substanz. Die Gefahr beginnt mit dem ersten Schluck und zwar unabhängig davon, in welchem Getränk er sich verbirgt.“
„Wein auf Bier, das lob ich mir – Bier auf Wein, das lass sein!“ Diese übrigens nicht auf chemischen Unbekömmlichkeitsreaktionen, sondern auch gesellschaftlichem Auf- oder Abstieg beruhende Gnome erweckt den im Volksglauben verankerten Mythos, dass die Alkoholwirkung grundsätzlich von der Art der Getränks anhängt. Die gleiche Dosis in hochwertigem Wein, nach Reinheitsgebot gebrautem Bier oder billigem Fusel wirke demnach ganz unterschiedlich. Wissenschaftlich seriöse Belege dafür gibt es nicht. Ausschlaggebend ist die Alkoholmenge – oder anders ausgedrückt: Wenn die Botschaft des Herrn Theophrastus B. von Hohenheim, „Omnia venenum sunt [..] Dosis sola facit, ut venenum non sit.“ auf einen Kontext passt, dann auf den Konsum von Alkohol. Dabei droht die Einsicht, dass diese nicht-giftige Dosis einzig in Abstinenz zu finden ist. Wie riskant das eigene Trinkverhalten im Abgleich mit anderen gefährdenden Lebensgewohnheiten bewertet wird, muss jeder für sich selbst entscheiden.
Ausdrücke wie „Geistige Getränke“, „Rebensaft ist Lebenssaft“, „verdientes Feierabendbier“, aber auch die noch immer verbreitete Verständnislosigkeit gegenüber Gar-keinen-Alkohol-Konsumenten („einen Kleinen kannst du doch wohl mittrinken“) verdeutlichen, dass das jahrtausendealte Kulturgut einen so hohen Stellenwert genießt, dass selbst schwerwiegende Gesundheitsgefahren wenig Gehör finden. Liegt im Wein die Wahrheit? Es könnte eine unliebsame und folgenschwere sein.
Denn sollten sich die Belege für ein deutliches gesundheitliches Schadenspotential bereits kleiner Alkoholdosen verfestigen, hätte das weitreichende Konsequenzen – man denke nur an die Weinbauregionen. Mit Blick auf das Rauchen, ungesunde Ernährung und Bewegungsarmut ist überdies fraglich, ob bekannte Risiken das Trinkverhalten maßgeblich ändern werden. Zudem dürfte die individuelle Risikoabschätzung ausschlaggebend sein. Jemanden, der aus geschmacklichen, Bekömmlichkeits- oder sonstigen Gründen jeglichem Alkohol entsagt, mit dem Hinweis auf gesundheitlichen Nutzen zum moderaten Konsum zu motivieren, konterkariert den wissenschaftlichen Kenntnisstand und sollte unterlassen werden.
Kaum minder sinnfrei erscheint es allerdings auch, einen rüstigen 90-Jährigen, der mit seinem allabendlichen Glas Bier oder Wein dieses biblische Alter erreicht hat, von der Schädlichkeit seines Tuns zu überzeugen. Es kommt halt immer auch auf den Einzelnen an, ob seine Dosis bereits Gift ist.
Unsicherheiten über gesundheitliche Risiken: Früher galt moderater Alkoholkonsum als potenziell gesundheitsfördernd. Neue Studien und WHO-Berichte stellen diese Annahme infrage und warnen vor gesundheitlichen Schäden bereits bei geringen Mengen.
Keine unbedenkliche Menge: Alkohol ist laut WHO ein Karzinogen der Kategorie 1 und mit zahlreichen Erkrankungen wie Krebs und Herzkreislauf-Problemen verknüpft. Eine sichere Konsumgrenze lässt sich wissenschaftlich nicht definieren.
Studienkritik und methodische Fehler: Viele ältere Studien wiesen methodische Mängel auf, etwa durch fehlerhafte Referenzgruppen oder unzureichende Berücksichtigung von Vorerkrankungen. Neue Metaanalysen zeigen, dass die vermeintlichen Schutzwirkungen von Alkohol wissenschaftlich kaum haltbar sind.
Gesellschaftliche Akzeptanz und kulturelle Prägung: Trotz evidenzbasierter Warnungen bleibt Alkohol gesellschaftlich tief verankert. Ein Umdenken erfordert nicht nur wissenschaftliche Aufklärung, sondern auch kulturellen Wandel.
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