Nur drei Schritte in den Rettungswagen – doch diese wenigen Schritte werden unserem Patienten fast zum Verhängnis. Ein Fehler, der mir zeigt, wie schmal der Grat zwischen Routine und Lebensgefahr ist.
Drei Schritte sind kein großes Ding. Drei Schritte entsprechen der Entfernung von der Couch bis zum Fernseher in einer Stadtwohnung. In einem großen Badezimmer könnten drei Schritte die Entfernung von der Dusche zur Toilette ausmachen. Oder vom Schlafzimmer in die Diele. Von der Haustür zum Briefkasten. Drei Schritte können nachts auf der Straße von einem ausgekühlten Steinpoller in einen Rettungswagen führen.
Die Uhr zeigte exakt Mitternacht. Für uns war es der sechste Einsatz in Folge in einer Nacht mitten im Juli. Der Mann saß an eben diesem Steinpoller gelehnt, ich sah ihn schon von Weitem. Ich schätzte ihn auf Mitte 40, er trug eine Lederjacke, Jeans, hatte dunkle kurze Haare und einen Vollbart. Letzterer wurde später noch zum Problem für uns.
Der Mann hob seine Hand, um sich bemerkbar zu machen. Meine Kollegin hielt den Rettungswagen mit dem seitlichen Einstieg direkt neben dem Mann. „Ich kriege nicht so gut Luft“, sagte er, „ich habe so ein Lungenproblem und eine Erkältung.“ Mir stellte sich in diesem Moment die Frage, ob es Sinn machte, den Mann hier am Steinpoller zu untersuchen oder ob wir ihn einfach schnell in den RTW steigen lassen sollten. Wir waren uns einig und nickten uns nur zu, denn der Mann stand exakt vor dem seitlichen Einstieg. Er hätte quasi in den Rettungswagen fallen können. Vor meinem geistigen Auge formte sich der Zeitaufwand, den es bedeuten würde die Trage herauszuholen – die Heckklappe auf, Trage raus und nach unten lassen. Alles körperliche Arbeit, die wir uns hätten sparen können, dachte ich. Wir hatten schließlich schon einiges an Einsätzen hinter uns, viel getragen und noch keine Pause gehabt. Und überhaupt …
Auch vor meinem geistigen Auge sah ich, wie der Mann einfach in den RTW einsteigen würde. Wir würden ihn untersuchen und wenn überhaupt eine Krankenhauseinweisung in Frage käme, verabreichen wir einfach Sauerstoff, und ab in eine Klinik. Die Voranmeldung würde „Infektexazerbation“ lauten. Es waren schließlich nur drei Schritte, und drei Schritte kann jeder einsteigen. Dachte ich. Aber in dieser Nacht auf dem Bürgersteig mitten in der Großstadt hatte ich nichts mehr auf dem Schirm. Auch nicht, dass der Patient trotz jungen Alters eine COPD und nur wenig Reserven haben könnte. Wie wenig wirklich – und wie gefährlich Bewegung im Bereich der Exazerbation ist – sollte ich gleich herausfinden.
„Sehen Sie die Liege? Es sind nur drei Schritte. Dann können Sie sich hinlegen, und wir können Sie untersuchen.“ Der Mann machte, was ich ihm sagte. Aber auf der Liege angekommen sah alles schon nicht mehr so rosig aus. „Ich kriege keine Luft“, wimmerte er und griff sich an die Brust. Meine Kollegin legte die Blutdruckmanschette an, drückte auf den Knopf und griff sogleich das Pulsoxy und die EKG-Kabel. Diese drei Schritte hatten dem Mann den Boden unter den Füßen weggezogen.
Eine COPD, auf deutsch „chronisch obstruktive Lungenerkrankung“, ist wie eine dauerhafte Verengung der Atemwege – als würde man selbst im Ruhezustand durch einen Strohhalm atmen. Bei Patienten mit COPD ist die Lunge nicht mehr elastisch genug, um beim Atmen richtig Luft aufzunehmen und abzugeben, was zu einem ständigen Gefühl des Luftmangels führt. Das Problem an der COPD ist, dass der Patient keinerlei Reserven mehr hat. Die Fläche des Gasaustauschs ist massiv verringert, die Sättigung in der Regel auch deutlich niedriger als beim Gesunden. Ein normaler Atemzug wird zur Anstrengung, jeder Schritt kann wie ein Sprint wirken und jede Bewegung kostet doppelt so viel Kraft. Klar – versucht doch mal, um den Block zu laufen und dabei nur durch die Spitze eines zerlegten Kugelschreibers zu atmen. Wenn sich eine Erkältung dazugesellt, kann die ohnehin schon angegriffene Lunge kaum noch den Sauerstoffbedarf decken und selbst kleinste Bewegungen können zur Bedrohung werden. Auch die drei Schritte in einen RTW.
Warum lassen wir Patienten überhaupt laufen? Es ist schließlich immer schonender für ihn, wenn er getragen wird, oder? Nun ja, für die meisten Menschen bedeutet ein Rettungsdiensteinsatz eine Ausnahmesituation. Der normale Tagesablauf ist gestört, nichts läuft mehr, wie es morgens noch geplant war. Der Patient verliert die Kontrolle über sein Leben. Fremde Menschen in Uniform dringen in sein Zuhause ein, nehmen Maßnahmen an ihm vor, geben irgendwelche Anweisungen, machen Unordnung in der Wohnung. Dann wird der Patient mit einem klapprigen Tragestuhl das enge Treppenhaus hinunterbefördert und auf eine Trage verfrachtet, die kaum breiter ist als er selbst.
Lässt man den Patienten ins Auto laufen, entschärft man die emotionale Situation für diesen häufig sehr. Er bekommt ein Stück Selbstwirksamkeit zurück. Die Situation ist schlimm, aber er bewegt sich noch selbst. Der Patient hat die subjektive Kontrolle darüber, was mit ihm passiert, denn er steigt in das Auto und wird nicht „verfrachtet“. Hinzu kommt, dass wir in einer Nacht bis zu zehn Patienten transportieren. Wir schauen also jedes Mal, in welchem Zustand der Patient ist. Dazu wird man ein bisschen bequem: Es ist leichter, jemandem stützend unter die Arme zu greifen, als ihn zu tragen. Mit Sicherheit auch deshalb, weil durchschnittlich 19 dieser 20 Einsätze Bagatellen sind, für die es keinen Rettungsdienst bräuchte. Husten, der „nicht weggeht“, Verstopfung mit Bauchweh, ein eitriger Zehennagel, Schnittwunde an der Hand, die nicht mal genäht werden muss. Und dann … „Atembeschwerden“. Manchmal hängt man dann leider noch im falschen Programm fest. Man ist noch im Bagatellmodus, ganz nach dem Motto „es war die ganze Nacht nichts, da kommt jetzt auch nichts schlimmes mehr“. Diese Denke rächt sich irgendwann, und dieses Irgendwann war jetzt.
Dem Mann hat man im Schummerlicht absolut nichts angesehen. Auch das trug dazu bei, dass ich mich sicher fühlte. Dann aber im RTW nach kurzer körperlicher Belastung: Lippenzyanose, 68 % SpO2, Tachypnoe mit 50 Atemzügen pro Minute. Bekamen wir das Problem nicht zeitnah in den Griff, hätten wir den Mann intubieren und beatmen müssen. Die NIV fiel mir ein. Ich riss den Beatmungsschlauch von der Wand, setzte Maske und Filter auf. Gleichzeitig erklärte ich dem Mann, was ich nun vorhatte. Dass die Maschine ihm nun beim Einatmen helfe und den Sauerstoff mit Druck in seine Lungen befördern würde. Dann den Medumat Standard 2 angeschaltet, auf CPAP/ASB. Als Parameter einen Peep von 5 und eine Druckunterstützung von 15, die Maske auf das Gesicht.
Aber der Vollbart fuhr mir in die Parade. Ich bekam die Maske nicht dicht. Es war zum Kotzen. Die Maschine alarmierte, der Sauerstoff strömte irgendwo seitlich an der Maske vorbei. Der Mann schlug um sich und wollte sich die Maske vom Gesicht reißen. „Ich kriege keine Luft“, stöhnte er, „Hilfe. Hilfe.“ Sättigung mittlerweile bei 65, Herzfrequenz bei 165, Atemfrequenz jenseits von Gut und Böse. In diesem Moment fiel mir ganz nebenbei ein, dass wir jetzt zu allem Überfluss auch noch ein Beatmungsbett brauchen. Diesen Gedanken fand ich unpassend und auch irgendwie absurd in dieser Situation – aber ich konnte nichts dagegen machen. Vom Betreten des Rettungswagens bis an den Rand dieses Abgrundes waren übrigens keine zwei Minuten vergangen.
Meine Kollegin hatte den Arm gestaut. Die Braunüle® der Größe 20 G saß. In diesem Moment war ich dankbar dafür, nicht auch noch einen venösen Zugang legen zu müssen. Und irgendwann funktionierte es plötzlich. Die Maske saß endlich dicht, die Maschine machte das, was sie machen sollte – sie half dem Mann beim Einatmen und der beruhigte sich augenblicklich. Die Schweißperlen tropften ihm von der Stirn. Die Zyanose verschwand sehr gemächlich. Er deutete uns, noch Luftnot zu haben. Ich erhöhte die Druckunterstützung auf 17 mbar. Es funktionierte. Die Herzfrequenz sank, die Atemfrequenz ebenfalls. Wir hatten bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal Zeit, Hilfe nachzufordern – die wir nun unter dem Strich auch nicht brauchten. Der Patient hatte sich stabilisiert. Meine Kollegin und ich hatten mehr Glück als Verstand.
Aus dieser Nacht zog ich einige Lehren für mein weiteres Rettungsdienstleben, die es in sich hatten:
Benötigt man präklinisch eine nicht-invasive Ventilation (NIV), dann steht man in der Regel mit dem Rücken zur Wand. Es geht nun darum, den Notfallpatienten möglichst schnell vor einer Dekompensation und somit vor einer invasiven Beatmung zu bewahren. Um nicht lange überlegen zu müssen, solltet ihr Indikationen, Kontraindikationen und ein paar Parameter blind parat haben.
Durch Antriggern (Patient versucht zu atmen, Maschine registriert Unterdruck) bekommt die Maschine das Signal, den Patienten bei der Atemtätigkeit zu unterstützen. Sie gibt nun einen Atemhub bis hin zu einem eingestellten Maximaldruck ab und nimmt dem Patienten so die Anstrengung der Einatmung ab.
Außerdem: Teilt dem Patienten mit, dass die ersten zwei Atemzüge noch unangenehm sein werden. Hat das System Druck aufgebaut, wird sich die Situation verbessern. Toleriert er die NIV-Therapie, kann die Maske mit der Gummi-Spinne hinter dem Kopf befestigt werden.
Die Einstellungen sind zeitnah zu reevaluieren, die Parameter gegebenenfalls anzupassen. Bekommt der Patient noch immer schlecht Luft, kann man versuchen, die Druckunterstützung sachte anzuheben.
Die NIV funktionierte, die Situation stabilisierte sich. Der Patient schien gut Luft zu bekommen und verlor an Zyanose, die Sättigung stieg an. Unter der Maske zischte es im Rhythmus der Atmung, die wie durch einen unsichtbaren Dirigenten unterstützt wurde. Die Augen des Mannes waren halb geschlossen, die Anspannung löste sich langsam aus seinem Gesicht. Er schien zu begreifen, dass er für diesen Moment in Sicherheit war, dass die Maske, die ihm eben noch so viel Angst gemacht hatte, nun sein einziger Halt war.
Ich lehnte mich zurück, wischte mir den Schweiß von der Stirn und holte tief Luft. Drei Schritte. Es waren nur drei verdammte Schritte gewesen. In meinem Kopf klangen die Worte hohl nach, wie ein Mantra der Bequemlichkeit, das ich mir selbst vorgebetet hatte.
Drei Schritte sind kein großes Ding. Doch hier, in der stickigen Luft des RTW, inmitten des stechenden Geruchs nach Desinfektionsmittel und Angst, begriff ich, was diese Schritte tatsächlich gekostet hatten.
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