Statt Menschen zu heilen, fülle ich nur noch Taxischeine und Krankschreibungen aus – und das, obwohl ich Hausärztin bin. Warum mache ich das hier eigentlich alles noch? Diese Frage kann ich in letzter Zeit nicht mehr beantworten.
Es geht mir nicht gut … Ich weiß nicht, ob das jetzt saisonal bedingt ist (Dunkelheit tut mir definitiv nicht gut), ob ich jetzt in die Wechseljahre komme oder ob es der Stress der Praxis ist, aber letztlich merke ich, dass es gerade emotional mindestens genauso zehrt wie letztes Jahr – wenn nicht mehr.
Das Schlimmste ist für mich subjektiv: Ich verliere mein „Warum“ im Job. Ich war immer ein Anhänger des Spruchs: „Wenn man ein ,Warum’ hat, ist (fast) kein ,Wie’ zu schwer.“ Jetzt kämpfe ich darum, mein „Warum“ nicht ganz zu verlieren … Und damit ist das aktuelle „wie“ dann deutlich schwieriger.
Wie das passiert ist? Ich weiß es selbst nicht so genau. Einerseits habe ich in den letzten zwei Jahren viele Dinge geschafft: Im Sommer habe ich das Praxisverwaltungssystems auf die neueste Version umgestellt und das brachte erstmal etwas Unruhe, aber jetzt läuft es und das neue System kann seine Stärken auch langsam ausspielen. Es gab Personalwechsel und damit verbundene Schwierigkeiten, die jetzt aber auch überwunden scheinen.
Die Patienten haben sich (halbwegs) an das System „für akute Probleme keine freie Arztwahl, wenn es ein spezieller Arzt sein soll, muss ein Termin gemacht werden“ gewöhnt und deswegen habe ich auch wenig Probleme, falls doch mal ein Termin platzt. Es sind insgesamt etwas weniger Patienten als letztes Jahr, aber das höre ich auch von vielen Praxen in der Umgebung und auch von weiter weg: Es sind insgesamt etwas weniger „schnelle Schnupfen-Patienten“, sondern die, die krank sind, kommen häufiger.
Das wirkt sich definitiv auch fiskalisch aus (denn dank der KV- (und HZV-)Flatrate muss ich zwar die Löhne bezahlen, aber bekomme für mehr Besuche nicht mehr Geld). Aber ich denke, das sollte aktuell noch machbar sein, dafür schieben wir nicht mehr einen riesigen Überstundenberg vor uns her. Ich hoffe auch, dass das auf Dauer wieder etwas besser werden wird.
Also was lässt mein „Warum“ immer weiter schrumpfen? Letztlich die Tatsache, dass mein Alltag immer mehr von Papier und Bürokratie und dem damit verbundenen Schimpfen gefressen wird. Aber da gibt es durchaus Abstufungen: Normale Dokumentation ist für mich kein Problem – wir sind ein Team mit mehreren Ärzten und da muss ich so dokumentieren, dass meine Kollegen jederzeit den Faden aufnehmen können. Das ist für mich völlig logisch und da habe ich kein Problem mit.
Mein Problem sind die zunehmenden Bürokratie-Diskussionen um die Indikation von Leistungen. Bei den Rezepten geht es los; diese inzwischen schon mehr als alltäglichen Diskussionen: „Ich will aber ein Aut-Idem-Kreuz.“
„Warum denn?“
„Ich habe das schon immer so gehabt, ich weiß nicht, ob ich die anderen vertrage.“
Konkrete Beschwerden sind selten – aber die Ansprüche hoch. Selbst wenn man sich dann mal breitschlagen lässt und das Kreuzchen setzt, geht es direkt weiter: Denn oft hatten die Apotheken über Jahre jeweils das Rabatt-Präparat gegeben und damit nicht das, was wir auf das Rezept geschrieben hatten – und wenn wir dann ein Kreuz setzen, dürfen die Apotheken nicht mehr austauschen. Also sind es wieder die falschen. Oder das Wunschpräparat ist nicht mehr lieferbar – auch da ist dann Ende der Diskussion (bis zum nächsten Rezept).
Heilmittelverordnungen sind auch ein gern genommener Diskussionspunkt: Nach zwei Tagen Rückenschmerzen wird sofort eine Physiotherapie erwünscht, am besten sofort. Und am besten dauerhaft. Bei älteren Patienten sowieso – „das tut so gut“. Bei mir wohnen immer zwei Seelen in der Brust: Ich schätze die Wirkung der Physiotherapie sehr, aber wenn ich jeden Patienten, der danach fragt, da hinschicke, bekomme ich für die wichtigen Patienten bald keine Termine mehr, weil die Physiotherapeuten mit „wohltuenden Nackenmassagen“ beschäftigt sind (wovon auch einige Physiotherapeuten in meinem Bekanntenkreis inzwischen ziemlich genervt berichten).
Facharzttermine/Zweitmeinungen, etc.: Ja, ich finde es auch schrecklich, wie lange manche Menschen auf einen Termin beim Facharzt warten müssen. Aber das kann nur mit MEHR Steuerung besser werden, nicht mit „einfach nur durchreichen“. Und nein, wer betrunken kollabiert, braucht nicht unbedingt eine Zweitmeinung vom Kardiologen, nachdem ein kardiologisches Krankenhaus schon einmal alles durchgecheckt hat. Gewünscht wird natürlich wieder am besten stationär („damit die mal alles nochmal so RICHTIG checken“). Wehe, man weist darauf hin, dass das einfach kein Grund für eine erneute Einweisung ist. Und dass nicht jede Zweit- (oder Dritt- oder Viert-)Meinung Kassenleistung ist.
Und wie vor kurzem schon erwähnt, das große Thema sonstige Leistungen: AU/Erwerbsminderungsrente/GdB (letzterer ist ja vor allem interessant, um früher abschlagsfrei in Rente zu gehen). Da wird selbst die chronische Nasennebenhöhlenentzündung in die Waagschale geworfen, rumgeschimpft („gefühlt geht doch jeder zweite mit Depression in Rente, warum darf ICH das denn nicht?“) oder kumpelhaft gefragt: „Können Sie mir nicht einfach IRGENDWAS bescheinigen?“
Erklären Sie mal jemandem, der nach 78 Wochen aus dem Krankengeld fällt, dass er jetzt nicht einfach mit einer weiteren Diagnose („Schreiben Sie einfach, dass ich jetzt wegen der Erkrankung depressiv geworden bin“) direkt die nächsten 78 Wochen anfangen kann. Denn am besten soll es ja direkt wieder mit dem Krankengeld weitergehen.
Dazu kommen noch Taxischeine – am besten auch für die Patienten, die explizit keinen GdB oder Pflegegrad WOLLEN, aber trotzdem Leistungen wie Fahrten zu ambulanten Behandlungen und die dann nicht verstehen, warum das nicht geht, wo es doch zum Krankenhaus vor ein paar Wochen ging. Oder auch Patienten, die Atteste für alles mögliche wollen. Ein Patient hat jetzt weggewechselt, weil ich ihm gesagt habe, dass ich ihm nicht bescheinigen kann, dass sein Bandscheibenvorfall von einer Impfung kommt. Eine andere wollte vor Gericht nicht erscheinen und dann vorher schon mal absprechen, dass sie „akut“ am Tag vorher kommt.
Mich macht das gerade wahnsinnig. Denn das sind alles keine medizinischen Tätigkeiten mehr. Man hilft nicht beim Gesundwerden (oder Gesundbleiben) sondern hat endlose Diskussionen über die langen Wunschlisten, die einfach nicht indiziert sind. Wir sollen ja auch nach dem WANZ-Prinzip arbeiten („Wirtschaftlich, Angemessen, Notwendig und Zweckmäßig“) – aber gleichzeitig möchte der „Kunde König sein“ und ich möchte mich auch nicht nur den ganzen Tag mit Patienten streiten. Aber einfach alles unterschreiben geht ja auch nicht ...
Diesen Widerspruch aufzulösen, gelingt mir aktuell nicht gut. Ich möchte helfen, aber ich möchte mich auch nicht zum Verschreibungssklaven machen lassen und Dinge verschreiben, hinter denen ich nicht stehe (und die je nach dem ja auch juristische Folgen für mich haben können). Das hat für mich nur noch sehr wenig mit dem eigentlichen Berufsbild des Arztes zu tun. Diese leider immer häufiger werdenden Spannungen rauben unheimlich viel Kraft – und mir mein „Warum“.
Ist das jetzt ein beginnender Burnout, dass ich die Bedürfnisse der anderen nicht mehr wahrnehme? Oder ist es nicht nur meine Wahrnehmung, sondern eine wirklich überzogene Anspruchshaltung?
Ich weiß es gerade nicht … Ich habe Angst vor dem Burnout, aber auch Sorge, mein „Warum“ zu verlieren, wenn mein Beruf immer mehr zur „Sozialleistungsbeurteilung und -verteilung“ wird und ich nicht mehr wirklich gesundheitlich helfen kann. Quasi „Krankheits- und Sozialmanagement“ statt Arztsein. Denn daher kommt (zumindest in unserer Praxis) ein großer Teil der oft verfluchten Bürokratie.
Mein früherer Chef meinte vor kurzem, dass er auch einen absoluten Tiefpunkt im zweiten/dritten Jahr hatte. Ich hoffe, er hat Recht und ich kann da wieder raus und mein „Warum“ behalten (oder ein neues finden). Aber so werden das verdammt lange Monate bis dahin. Puh, das klingt extrem bitter. Fühlt sich oft aktuell auch so an.
„Let the last of your words be kind“ singt einer meiner Lieblingssänger, Damian Wilson, in einem Lied mit dem zum Artikel passenden Titel „Written in Anger“. Also versuche ich das – denn es sind ja bei weitem nicht alle Patienten: Danke an all die Patienten (und MFA, ärztliche Kollegen, Logopäden, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Zahnärzte und alle, die ich jetzt noch vergessen habe), die uns im letzten Jahr unterstützt haben. Danke für alle, die einander helfen und somit dafür sorgen, dass man diesen eigentlich wunderschönen Beruf weiter aufrecht erhalten kann. Nur so kommen wir weiter – auch in den nächsten Jahren.
Bildquelle: Nikko Macaspac, Unsplash