Eine HIV-Infektion ist schon lange kein Todesurteil mehr – verurteilt werden Betroffene trotzdem. Dabei sind sie bei richtiger Behandlung nicht ansteckend. Auch bei Ärzten besteht Nachholbedarf, um Wissenslücken zu schließen.
Ein Text von Dr. Kristina Hopfensperger
Menschen mit HIV leben heute fast normal. Die meisten nehmen ein bis zwei Tabletten pro Tag, die in der Regel gut verträglich sind. Hinzu kommen regelmäßige Kontrolluntersuchungen alle drei bis sechs Monate, um sicherzustellen, dass die Behandlung wirkt und keine schwerwiegenden Nebenwirkungen verursacht. Alles in allem ist der Aufwand überschaubar. Die gute Nachricht: Menschen mit HIV in Deutschland erleben ihre Infektion heute selbst nicht mehr als Einschränkung. Von 933 Befragten der Studie „positive stimmen 2.0“ geben 90 % an, „gut mit ihrer HIV-Infektion“ zu leben.
Und nun kommt das unweigerliche Aber: Obwohl sich die Therapie und Lebensqualität von Menschen mit HIV deutlich verbessert haben, halten sich viele Vorurteile hartnäckig. Jeder zweite Mensch mit HIV gibt an, dass Vorurteile sein Leben beeinflussen. Viele leiden heute mehr unter Stigmatisierung und Diskriminierung als unter der Infektion selbst.
Auch das Gesundheitswesen ist hier keine Ausnahme. HIV-bezogene Diskriminierung im Gesundheitsbereich wird von den befragten Menschen mit HIV besonders häufig erwähnt und als sehr belastend erlebt:
„Die größte Diskriminierung und Stigmatisierung findet immer noch im Gesundheitswesen und der Pflege statt, besonders in Krankenhäusern und bei Zahnärzten.“ – anonymer Studienteilnehmer
Etwa ein Viertel der Befragten berichtet von unangemessenen Fragen: „Wie haben Sie sich angesteckt? Wo ist das passiert? Benutzen Sie immer ein Kondom? Haben Sie Kinder?“ Sehr persönliche Fragen, die man nicht gegenüber völlig Fremden beantworten möchte. Auch nicht in Praxis oder Klinik, wenn es für die Behandlung irrelevant ist.
Zusätzlich berichten Befragte, dass der Körperkontakt vermieden wird. Zum Teil wird die Patientenakte von außen sichtbar markiert. Achtung HIV! Datenschutz? Fehlanzeige. 8 % der Menschen mit HIV berichteten sogar, dass ihnen in den letzen zwölf Monaten eine Gesundheitsleistung wegen ihrer HIV-Infektion verweigert wurde. Von Verweigerung der zahnärztlichen Versorgung berichten sogar 16 %.
„Ich dachte, im Gesundheitsdienst bin ich gut aufgehoben. Leider ist oft das Gegenteil der Fall. Aussagen und Verhaltensweisen wie 1985, das darf doch nicht sein. Ich wünsche mir den neuesten Wissensstand in diesem Bereich.“ – anonymer Studienteilnehmer
Ein aktueller Bericht des ECDC bestätigt das. Von mehr als 18.000 befragten Mitarbeitern im Gesundheitssystem der EU hatten die Hälfte mangelnde Grundkenntnisse beim Thema HIV. Wissenslücken gibt es auf allen Ebenen: unter Ärzten, Pflegefachkräften, Hilfskräften und im Management.
Die Befragten machten z. B. falsche Angaben zur Prä- und Postexpositionsprophylaxe. Sie wussten nicht, dass HIV nicht übertragbar ist, wenn die Viruslast durch erfolgreiche Therapie unter der Nachweisgrenze liegt. Gleichzeitig sorgen sich mehr als 50 % der Beschäftigten, wenn sie bei Menschen mit HIV Blut abnehmen oder Wunden versorgen. Sie denken, dass Menschen mit HIV sie einem erhöhten Risiko aussetzen.
Aber das ist falsch. Denn HIV ist nur übertragbar, wenn eine ausreichende Virusmenge in den Körper gelangt oder in Kontakt mit offenen Wunden oder Schleimhäuten kommt. Im Alltag besteht keine Ansteckungsgefahr. Wenn die üblichen Hygiene- und Arbeitsschutzmaßnahmen eingehalten werden, besteht auch in Arztpraxen und Krankenhäusern keine Gefahr – weder für Mitarbeiter noch für andere Patienten. Es sind keine zusätzlichen Schutz- oder Reinigungsmaßnahmen nötig.
Dass dieses Wissen im Gesundheitswesen ankommt, ist Menschen, die mit HIV leben, sehr wichtig:
„Mir ist wichtig, offen mit HIV umzugehen, HIV ein Gesicht zu geben, Diskriminierung abzubauen und HIV zu einem normalen Bestandteil der Gesellschaft zu machen. Auch unter uninformierten Ärzt*innen gibt es noch sehr viel Unsicherheit.“ – anonymer Studienteilnehmer
Kein Wunder. 38 % der vom ECDC befragten Mitarbeiter im Gesundheitswesen wurden nie zum Thema HIV geschult. Aus ihrem Unwissen heraus ergreifen sie selbst Maßnahmen. Mehr als 25 % tragen zwei Paar Handschuhe übereinander. 8 % vermeiden Körperkontakt. Diese (unnötigen) Maßnahmen geben ein Gefühl der Sicherheit – oder das Gefühl, abstoßend und gefährlich zu sein. Je nachdem, auf welcher Seite man steht.
Bildquelle: Nadine E, Unsplash