Die Vollzugspsychologie hat ihr eigenes Klientel, ihre eigene Sprache, ihre eigenen Regeln. Was sie ausmacht, wie ich sie im Alltag erlebe und selbst an den Erfahrungen wachse, möchte ich mit euch teilen.
Mein Name ist Charlotte Pisch (ist er nicht wirklich), und ich bin Psychologin in einem großen süddeutschen Gefängnis (bin ich wirklich). Ich liebe meinen Job, aber er ist nicht wie andere. Man kann niemandem wirklich davon erzählen, zum Teil, weil man nicht darf (therapeutische Schweigepflicht, und im Gefängnis ist eh alles geheim), zum anderen aber, weil Fäkalien werfende Psychotiker eben kein Thema fürs Familienessen sind.
Ich möchte euch ein wenig an der Welt der Vollzugspsychologie teilhaben lassen. Zum Teil, um den Voyeurismus zu bedienen, den wir alle in uns tragen, aber vor allem, weil ich glaube, dass man in kaum einem anderen Bereich so viel über die Psyche der Menschen und deren Abgründe lernen kann, wie hinter Gittern. Außerdem erzähle ich gern über meine Arbeit.
Das was die Menschen am meisten daran erschreckt, ist die Erkenntnis, dass innerhalb der Mauern dieselben Menschen sitzen wie außerhalb. Uns unterscheidet nichts wesentlich. „Oh Gott, innerhalb der Mauern sitzen Straftäter und wir draußen sind alle frei von Sünde.“ Merkt ihr selber, ne?
Ich bin der Ansicht, dass man jeden Menschen zu jeder Tat bringen kann, wenn man ihn nur weit genug in die Enge treibt. Die Formel ist bei neun von zehn Menschen dieselbe: Multipliziert man die Ressourcen mit seinen Stressoren, ergibt dies die Handlung. Individuum A hat sozialen Rückhalt, Individuum B nicht. Ein anderer hat mehr Traumata im Gepäck, eine defizitäre kindliche Entwicklung und vielleicht sind neurologisch auch ein paar Lötstellen kalt. Mit Sicherheit könnte ich jedem von euch ein Szenario auf den Leib phantasieren, dass euch ausrasten lässt. Ihr schlagt jemanden tot, ihr verschafft euch Geld, Medikamente oder was auch immer ihr braucht, um das, was euch im Tiefsten heilig ist, am Laufen zu halten. Zum Glück tritt dies in der Regel nicht ein, da am Ende doch irgendein Alarmsystem innerhalb unserer Person greift und uns zurückhält.
Die, mit denen ich beruflich zu tun habe, haben die juristische Schallmauer eben durchbrochen. Manche hatten einfach Pech. Manche ein defizitäres Alarmsystem. Manche haben eine filmreife Odyssee falscher Entscheidungen hinter sich, und viele, viele haben ihr Heil in den Drogen gesucht. Drogen sind ein teures Hobby, und mit legalen Mitteln so gut wie nicht finanzierbar. Schwer Drogenabhängige gehen über Leichen für die nächste Dosis. Je abhängiger, desto mehr Leichen. Diese Menschen sind mitnichten „böse“, nur sehr fixiert.
Wenn ich mit einem Drogenabhängigen spreche – bei uns heißen sie „Giftler“ – dann läuft das Gespräch fast immer nach demselben Muster ab. Ich stelle mich an die kleine Luke in der Haftraumtüre, die sogenannte „Kostklappe“, stelle mich kurz vor und frage, ob es um die Medikation, einen Anruf, oder vielleicht sogar um ein Gespräch mit mir geht.
Zum Verständnis: Für die Medikation ist der Arzt zuständig, Telefonat gibt’s beim Sozialdienst. Nur das therapeutische Gespräch gibt es bei mir.
Selbstverständlich möchte der Gefangene sprechen. Er kennt auch alle Schlagwörter, berichtet von frühkindlichen unaufgearbeiteten, und zusätzlich aktuellen Traumata. Das Leben auf der Straße ist hart, viele Dinge sind passiert „die einfach meinen Kopf ficken“, und man möchte über all das mal reden.
Vor zehn Jahren nahm ich einen solchen Patienten voller Vorfreude auf eine fruchtbare therapeutische Intervention mit in mein Büro, unterhielt mich 30 Minuten oder länger über schlagende Väter, vergewaltigte, psychotische und alkoholkranke Mütter. Viele verstorbene Freunde und Angehörige und wie sehr der Klient sich wünscht, ein Leben ohne Drogen auf die Reihe zu bekommen. Ich war euphorisch, denn die Motivation klingt immer echt (wahrscheinlich ist sie das in diesem Moment auch). Ich hatte das Gefühl, ich kann hier wirklich wen retten. Das drängende Nachhaken in den letzten zehn Minuten des Gespräches, ob ich denn nicht nochmal mit dem Arzt sprechen könne, damit der das Pola, das Meta oder wenigstens das Lyrica wieder ein wenig hochsetzen könne, lächelte ich irgendwie weg. „Nur jetzt in der ersten Zeit. Ich hab so viel in meinem Kopf, das ich verarbeiten muss. Ich bin dank Ihnen gerade echt auf einem krassen Weg und wenn dann der Entzug noch mit dazu kommt, habe ich einfach Bedenken, das nicht zu schaffen und dann vielleicht doch wieder schwach zu werden und mir was aufzustellen (Anm.: „aufstellen“ = illegal von einem anderen Inhaftierten gegen viel zu viel Tabak, Kaffee oder sexuelle Dienstleistungen abkaufen).“
Ich gebe zu, früher hab ich bisweilen tatsächlich beim Arzt angerufen und gefragt, ob man nicht … ich brauche wohl nicht erwähnen, dass dies meine Sympathiepunkte in der Ärzteschaft nicht durch die Decke gehen ließ.
Mit den Jahren riecht man bereits vorher, worauf solche Gespräche rauslaufen, und man fängt diese auch anders an.
Ich frage heute sehr direkt, ob mein Klient wirklich die Drogen aufgeben möchte und wie er sich das konkret vorgestellt hat. Ich erkläre deutlich, dass man nicht in den „geschmeidigen“ Zeiten clean bleibt, sondern dann, wenn das Leben einen hart fickt (entschuldigt bitte. Gefängniswortschatz). Ganz genau erst dann, wenn man es schafft, neue Belastungen, Traumata und Stress ohne Substanzen zu bewältigen. „Mehr Pola, weil ich bin ja im Gefängnis“ ist damit als Argument dann irgendwie ganz schnell vom Tisch.
Versteht mich nicht falsch. Substitution ist richtig und unfassbar wichtig. Zum Glück hat es sich seit einigen Jahren auch bis nach Süddeutschland herumgesprochen, dass ein „kalter Entzug“ keine abschreckende oder gar heilende Wirkung auf die menschliche Psyche hat. Im Gegenteil weiß man inzwischen, dass unter Substitution das Rückfallrisiko signifikant sinkt. Für einen schwer Abhängigen ist allerdings oft nicht zu verstehen, warum die Dosis genau so und nicht höher festgesetzt wird. Und mische ich als Psychologin mich in den Substitutionsplan des Arztes ein, ist dies aus vielen Gründen ungut, wie ihr euch vorstellen können.
In meinen Sitzungen frage ich auch betriebswirtschaftliche Eckdaten ab.
„Als Drogendealer haben Sie so einen Stundenlohn von 400,- bis 1000,- Euro oder mehr, je nachdem wie tüchtig Sie sind. Mit legaler Arbeit müssen Sie für 12,50 Euro morgens um sechs Uhr aufstehen. Wie lange halten Sie das durch?“ „Und was, wenn der Kühlschrank und die Waschmaschine kaputt gehen und gleichzeitig der Hund zum Tierarzt muss? Wie priorisieren Sie? Oder machen Sie doch nochmal ,einen letzten Deal?’“
Gestern hatte ich Zugang (Anm.: Dienst in der Zugangsabteilung. Suizidscreening mit allen Neuankömmlingen). Ein freundlicher und nicht unsympathischer „Giftler“ quält sich aus dem Warteraum. Er hat Schmerzen im Rücken, den Beinen, den Knien. Bewegt sich sehr langsam. Keine Zähne, Haut und Haare sind grau wie unsere Außenmauern, das Gesicht faltig und eingefallen. Ich schätze ihn auf Ü80 (er war 51). Er zieht in Erwägung, auf Therapie zu gehen und sieht mich erwartungsvoll an. Ich spüre, dass er sich für diese Idee ein Schulterklopfen erhofft.
„Na, wenn dann jetzt“, erwidere ich. Er sinkt in seinem Stuhl zusammen. „Jetzt“ ist eh immer ein ungeeigneter Zeitpunkt. „Viel Zeit haben Sie nicht mehr, wenn Sie so weitermachen sind Sie ziemlich bald tot.“ Er zuckt ein wenig zusammen, wird traurig, richtet sich auf und verlangt nach einem Antragschein, damit er der Drogenberatung schreiben kann. Bestimmt macht er’s. Bestimmt.
Das Leben ist so relativ. Der Typ ist nur ein Jahr älter als mein Mann, und der läuft dreimal die Woche zehn Kilometer in weniger als einer Stunde, atmet mit jedem Schritt frische Luft, ist lebendig und wach und augenscheinlich weit entfernt von seinem Lebensende. Mein Klient hingegen wirkt wie ein leerer Mantel, den das Leben längst ausgezogen hat. Ausgebrannt und verbraucht. Es ist mühsam und frustrierend bei Menschen wie diesem nach einem Funken Lebensmut zu suchen.
Vielleicht geht er diesen Weg zur Drogenberatung tatsächlich. Vielleicht. Doch ich kenne dieses „Vielleicht“ nur zu gut. Es ist ein vorsichtiges Flackern, das sich für eine Sekunde erhebt, im nächsten Moment jedoch wieder von der Dunkelheit erstickt wird. Die Gefängnismauern sind voll von diesem Flackern.
Das Leben ist so relativ.
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