Gerade bei älteren Menschen werden Medikamente oft nach dem Motto „Einer geht noch“ verschrieben – dabei wird das Risiko von Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen zu wenig beachtet. Wie häufig das tödlich endet, lest ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Eine 89-jährige Pflegeheimbewohnerin leidet an Schwindel und Immobilität; in der HNO-Klinik finden Ärzte nichts Auffälliges. Die Frau hat eine leichte Alzheimer-Demenz, Depression, arterielle Hypertonie, einen AV-Block ersten Grades und trägt eine Hüftgelenksendoprothese. Ärzte haben ihr Amlodipin, Ramipril, Bisoprolol, Quetiapin, Pipamperon, L-Thyroxin und Mirtazapin verordnet.
Beim Deprescribing nach einer Medikationsanalyse verringern Ärzte die Zahl der Neuroleptika auf eine Substanz und passen die antihypertensive Medikation an. Daraufhin bessert sich der Zustand der Frau rasch. Innerhalb weniger Tage kann sie sich wieder mit ihrem Rollator fortbewegen. Der Fallbericht zeigt, welche Folgen Polypharmazie (Polymedikation oder Multimedikation) haben kann – und wie wichtig es ist, Medikationspläne zu überprüfen.
Der Case Report beleuchtet keinen Einzelfall: Rund 42 Prozent aller Menschen über 65 bekommen fünf oder mehr rezeptpflichtige Medikamente in Dauertherapie. OTCs beziehungsweise Nahrungsergänzungsmittel wurden dabei nicht berücksichtigt. Jeder Dritte zwischen 75 und 80 Jahren nimmt sogar mehr als acht Arzneimittel pro Tag ein.
In Alten- bzw. Pflegeheimen kommt es noch häufiger zu Polypharmazie: Eine Studie zeigt, dass 31,9 Prozent der Bewohner neun oder mehr verschiedene Wirkstoffe innerhalb eines Quartals erhalten haben. Nicht immer wird die Nierenfunktion bei Verordnungen ausreichend berücksichtigt. Rund die Hälfte aller Senioren erhält inadäquate Medikamente – meist von Hausärzten (12,5 Prozent der Verordnungen) und Psychiatern (44,2 Prozent) verschrieben.
Arzneimittelexperten der Universität Bonn haben 323 Medikationsanalysen durchgeführt. Die Patienten waren im Durchschnitt 72 Jahre alt und nahmen durchschnittlich elf Arzneimittel ein. Pro Person fanden die Wissenschaftler sieben arzneimittelbezogene Probleme.
Polypharmazie bleibt nicht ohne Folgen – in Deutschland lassen sich 6,5 Prozent aller Hospitalisierungen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) zurückführen, wie eine Analyse von 10.174 Fällen aus Notaufnahmen zeigt. Eine Review mit 25 Studien und insgesamt 106.586 hospitalisierten Patienten nennt 0,16 bis 15,7 Prozent als Prävalenz, mit 5,3 Prozent als Median.
Pro Jahr sterben schätzungsweise 50.000 Menschen durch UAW; andere Quellen gehen von 16.000 bis 25.000 Toten pro Jahr durch UAW aus. Genaue Zahlen gibt es nicht; die Dunkelziffer ist sicher hoch. Zum Vergleich: Im Jahr 2023 sind etwa 2.800 Menschen im Straßenverkehr gestorben.
Ein Blick auf die Ursachen von Polypharmazie: Ältere Menschen haben oft etliche Erkrankungen. Ihre Multimorbidität macht wenig überraschend mehrere Pharmakotherapien erforderlich. Dabei können altersbedingte Veränderungen der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik die Wirkung der Arzneistoffe im Körper beeinflussen; ältere Menschen sind in klinischen Studien nach wie vor unterrepräsentiert.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich Leitlinien oft auf einzelne Erkrankungen fokussieren und nicht die gesamte Situation berücksichtigen. Dies kann zu einer Verschreibungskaskade führen, bei der Nebenwirkungen eines Medikaments fälschlicherweise als neue Erkrankung interpretiert werden.
Auch die Behandlung durch mehrere Fachärzte ohne ausreichende Kommunikation gilt als Grund für Polypharmazie. Zwar haben Versicherte Anspruch auf den bundeseinheitlichen Medikationsplan (BMP), nur hält sich das Interesse von Patienten in Grenzen – und viele BMP weisen inhaltliche Fehler auf. Auch werden Empfehlungen zu potenziell inadäquaten Medikationen im Alter (PIM), etwa gemäß der Priscus-Liste, zu wenig beachtet.
Genau hier sollten Strategien ansetzen, um die Arzneimitteltherapiesicherheit zu optimieren. Das Zauberwort heißt Deprescribing, sprich ein kontrolliertes Absetzen nach evidenzbasierter Abwägung von Nutzen und Risiken. Wie kann das gelingen?
Zu Beginn steht eine umfassende Analyse. Patienten mit Polymedikation haben darauf Anspruch, dass eine Apotheke ihrer Wahl ihre Medikation überprüft. Das gilt alle zwölf Monate oder bei erheblichen Umstellungen der Pharmakotherapie. Auf Wunsch bespricht die Apotheke empfohlene Änderungen mit der Arztpraxis. Spezielle Handlungsempfehlungen für Alten- und Pflegearme existieren ebenfalls.
Medikamente, die mit hohen Risiken verbunden sind – etwa potenziell inadäquate Wirkstoffe laut Priscus-Liste oder laut Beers-Kriterien – werden zuerst überprüft. Dabei ist stets zu klären, ob Leitlinien und Studien die weitere Anwendung der Medikamente rechtfertigen.
Spricht viel dafür, ein Medikament zu streichen, sollten Patienten die Dosis nicht abrupt, sondern schrittweise verringern, speziell bei Wirkstoffen mit Entzugs- oder Rebound-Effekten wie Benzodiazepinen, Opioiden oder Antidepressiva. Die Dosisreduktion erfolgt über Wochen bis Monate, abhängig vom Wirkstoff und von den Grunderkrankungen des Patienten.
Das Wichtigste auf einen Blick
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