Krisen sind die Hochsaison für Schnapsideen: Ein ehemaliger MVZ-Gründer will auf dem Rechtsweg an das Milliardenvermögen deutscher KVen. Aber erstmal muss er 6 Millionen Euro für die Anwälte zusammenkratzen.
Ein doppeltes Klinik-Chefarztgehalt, einen Firmenwagen für 150.000 Euro, eine 3-Tage-Woche und 60 Tage bezahlten Urlaub – und das in einer aufstrebenden MVZ-Gruppe. Mit dieser Ausschreibung suchte die „MVZ DerArzt eG“ 2018 nach neuen Augenärzten. Wer da nicht ein Kribbeln verspürte und zum Hörer griff, schien verrückt zu sein. Immerhin würde man Teil eines Netzwerks, das bis 2023 1.000 Praxen mit 2.000 angestellten Ärzten umfasse. Darunter sollten laut Gründer Michael Kosel 300 Hausarztpraxen in Sachsen sowie weitere 130 Augenarztpraxen sein.
Auch der zweite Blick schien die Träume aufrecht zu erhalten. Immerhin wollte man aus dem bestehenden EBM-System ausscheren, gar ein eigenes „MVZ-EBM“ etablieren, um die finanzielle Deckung der ärztlichen Arbeit angemessen sicherzustellen. Der Plan dahinter: Das MVZ mit Sitz in Köln wollte dazu Selektivverträge mit den Krankenkassen eingehen. Obwohl dieser Plan bereits im vergangenen Jahr vor Gericht scheiterte, haben die MVZ-Gruppe sowie der ihr angegliederte Dienstleister „DerArztPlus AG“ weiterhin einiges an Ideen vorzuweisen.
Die Kosel'schen Aktivitäten stehen dabei im Zeichen von Revolution und Systemabkehr. In tiefstem Schwarz zeichnet er das Ende des KV-Systems, in dem es zum Massensterben von Praxen und MVZ kommen soll: „MVZ Betriebe schließen reihenweise ihre Betriebe. […] Die Sicherung der ambulanten Versorgung durch die KVen ist schon seit vielen Jahren nicht mehr gewährleistet. […]“. Die statistische Auswertung der KBV zur MVZ-Lage in Deutschland kommt zu einem anderen Ergebnis: Ein Zuwachs von 323 MVZ, von 4.574 auf 4.897, kurz: 7 % allein von 2022 auf 2023.
Für die Sicherstellung der Versorgung im ländlichen Raum greift Kosel auf das DDR-Vorbild der „Gemeindeschwester Agnes“ zurück: „Sie wäre ideal für einen Ort mit weniger als 3.000 Einwohnern, denn Krankenschwestern gibt es ausreichend. Im Bedarfsfall kann ,Schwester Agnes’ einen Arzt zum Beispiel via Telemedizin zurate ziehen.“ Dazu sollen „Cluster-MVZ“ etabliert werden, in der verschiedene Gemeinden ihr Personal zusammenlegen.
Die MVZ-Realität in Deutschland 2023. Credits: Kassenärztliche Bundesvereinigung
Die Zielvorstellung: Ein genossenschaftliches System (in Teilen nach DDR-Vorbild), das neben der Struktur auch die Finanzierung und Arbeitsorganisation klärt und dabei fantastische Gewinnsummen verspricht und stark durchökonomisiert ist. Wie wackelig das Gesamtkonstrukt ist, zeigt ein Blick in die Finanzierungsstrategie der angeschlossenen AG, die sich unter anderem auf Kryptowährung und das „Mining von Reward Token“ stützt. Auf den ersten Blick kurios – auf den zweiten Blick logisch, da MVZ-Gründer Kosel seines Zeichens Banker und eher im Aktiengeschäft als im Gesundheitswesen zuhause ist.
Wieviel Misstrauen die Gruppe gegenüber dem gegenwärtigen politischen System hat, verrät ein Einblick in den Businessplan. Dort heißt es: „Wir stehen am Rande einer Hyperinflation. […] Dieser Prozess ist politisch auf nationaler und internationaler Ebene gewollt. […] Sparer werden fortan weiter enteignet und zukünftige Rentner um den Wert Ihrer Altersversorgungen gebracht. Das ist die Realität, der wir uns heute stellen müssen. Der Mittelstand wird abgeschafft und 80% aller Vermögenswerte erweisen sich am Ende als NICHT-CORONA-resistent, geschweige denn ,Ukraine“-resistent.’“ Klingt stark nach Boomer-Dystopie.
Dass es bei diesen Äußerungen nicht lange dauerte, bis entsprechende Gegner auf der Matte standen, ist klar. Kosel goß fleißig Öl ins Feuer, indem er die regionalen KV-Fürsten als „Schreiberlinge“ titulierte, die mit „trivialen Behauptungen“ hantieren und deren „Angstschweiß [er] förmlich riechen“ könne. Für die angesprochenen Ärztevertreter ist Kosel allerdings nicht mehr als ein „Glücksritter“, der „mit vermeintlichen Zukunftsängsten von Ärzten spielt“ und ein System etablieren wolle, das versucht „durch Druckausübung auf potenzielle Mitglieder in den lukrativen Markt einzudringen und die Versorgung zu steuern“, so der Leipziger KV-Regionalausschuss-Chef Frank Rohrwacher.
In den Runden 1 und 2 hat die KV, zuletzt vergangenes Jahr, erste Punktsiege vor Gericht einholen können. Nach dem Aus für den MVZ-EBM und zwei erfolgreich beendeten Disziplinarverfahren, wonach die Gruppe niedergelassenen Ärzte Gelder für die Zuweisung von Patienten anbot, ging die MVZ-Gruppe Mitte 2023 in die Insolvenz. Dem technischen K.O., das durch anhaltende Prozesse nachwirkt, versucht Kosel nun zu entgehen, indem er nach neuen Geldgebern sucht, die ihm einen längeren Rechtsstreit ermöglichen.
Ins Visier der neuen Post-Insolvenz-Strategie geraten nun aktuell auch Nicht-medizinische Institutionen. So liegt DocCheck ein Schreiben vor, wonach sich Unternehmen beteiligen können, „Kartellstrukturen [zu brechen] und sich an der Neuorganisation des Honorarwesens“ zu beteiligen. Man bräuchte nur ein wenig Kleingeld – das man natürlich gewinnbringend zurückerhalten werde. Immerhin sei man sicher, dass „der [Plan] auch dann funktionieren wird, wenn das Gesundheitssystem weiter einbricht, 50% der Krankenhäuser und MVZ insolvent sind und 35% der Ärzte ihre Praxis aufgegeben haben werden“. Zum anderen würde ohne Teilnahme am Kosel-Konzept das eigene Überleben „nachhaltig beschädigt und der Börsenwert nahezu vollständig vernichtet.“
Konkret müsste man nun „die verkrusteten Marktstrukturen in disruptiver Weise angreifen und über ihre Schwächen Marktanteile gewinnen oder das „gestörte“ System durch neue Lösungen verbessern“. In Kosels Welt heißt das: Er stellt direkte Schadensersatzansprüche gegenüber den KVen in Höhe von 70 Millionen Euro und bereitet 2 Kartell-Klagen und 17 Transparenzklagen gegen alle KVen vor, da diese „vollständig verdeckt“ ein „3stelliges-Milliarden-Vermögen“ aufgebaut hätten. Um diese Klagen zu gewinnen, braucht es rund 6 Millionen Euro für Prozesskosten und Marketingkampagnen. Ärzte, die Blut gerochen haben, können sich in verschiedenen Formen an diesem KV-Kreuzzug beteiligen. Dafür müssen sie allerdings ein Investment zwischen 5.000 und 100.000 Euro leisten – kein Pappenstiel für die angeblich vom Untergang bedrohten Kollegen.
Noch scheint sich der Andrang in Grenzen zu halten.
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