Die Deutschen lieben Sicherheit – und Einmal-Handschuhe. Ob beim Impfen oder Transportieren, die Wegwerf-Produkte sind kaum mehr wegzudenken. Warum Nachhaltigkeit in der Medizin nicht nur Müllberge verhindern, sondern auch Patientenleben schützen kann.
„OK, machen Sie mal den Oberarm frei.“ Der Arzt desinfiziert die Injektionsstelle und zieht sich Handschuhe an. Die Spritze liegt bereit. „Das piekst jetzt mal – so – schon fertig“. Ein Tupfer, Handschuhe aus, sie landen im Müll. Das Ganze hat keine 15 Sekunden gedauert.
Szenenwechsel. Ein Krankenhaus – eines von wie vielen. Auch die Intensivstation: Beliebig. „So, wir hängen Herrn Schneider jetzt mal die Erstantibiose an“, meint die Ärztin zum PJler, während sie nochmal schnell von ihrem Brötchen abbeißt. Die beiden gehen zum Zimmer, ziehen ihre Handschuhe an. Im Zimmer liegt der Patient nur halbverdeckt durch einen Vorhang nackt auf der Seite und schaut irritiert auf die Besucher. Am Hals baumelt der ZVK. Hinter ihm tauchen 2 Pfleger auf „wir waschen gerade“. Ärztin: „Ah ok, wir kommen später nochmal. Komm, wir gehen noch einen Kaffee trinken.“ Zwei Paar Handschuhe fliegen Richtung Mülltonne.
Eine Station weiter: Eine Patientin mit Tuberkulose wird entlassen. Nach mehreren Wochen Behandlung gab es jetzt 3 negative Sputumproben, die PCR bleibt positiv. Entisolation vor ein paar Tagen. Der Arzt unterbricht kurz die Visite und bringt den Arztbrief ins Zimmer: „Wir ziehen uns mal Kittel und Handschuhe an, sicher ist sicher“. Die umstehenden nicken bekräftigend.Vier Personen gehen ins Zimmer:
„Frau Meier, jetzt haben sie es geschafft. Wir haben ja gestern Abend schon alles besprochen. Hier ist ihr Brief. Ihr Pneumologe betreut Sie dann weiter. Alles Gute!“
„Danke! Bin ich denn wirklich nicht mehr ansteckend? Wegen den Kitteln und so.“
„Nein, machen Sie sich gar keine Sorgen! Alles gut!“
Im Herausgehen landen zwei FFP2-Masken, ein Mund-Nasen-Schutz, drei Kittel und vier Paar Handschuhe im Müll. „Tschuldigung – könnten Sie nachher mal den Mülleimer leeren? Schon wieder voll“, ruft der Arzt im Vorbeigehen einer Reinigungskraft zu. Visite, weiter geht’s.
Unser täglicher Müll (Quelle: rts.com)
So geht das jeden Tag. In der COP 2024 in Aserbaidschan wird um jeden Euro und jedes Wort in der Abschlusserklärung gefeilscht: „Wir müssen JETZT handeln!“ In den Medien werden die Hochwasserkatastrophen in Spanien und EU-Programme zur Müllvermeidung diskutiert.
Gespräch im Supermarkt an der Kasse: „Wie, keine Plastiktüten mehr? Warum das denn?“ Die Frau dreht sich zu ihrer Freundin um: „Ja, wie gesagt, dieses Jahr auf Mallorca: Überall Dreck am Strand, da fahren wir nicht mehr hin! Wir fliegen jetzt nach Bali, total günstig und saubere Strände!“
Und bei uns so? Sobald man die Krankenhaustür hinter sich gelassen hat und in das geschäftige Treiben eintaucht, ist das alles vergessen – ein merkwürdiger Mikrokosmos, in dem andere Regeln gelten. Harte Regeln aufstellen „zur Sicherheit“ ist immer gut. Wir Deutsche lieben Sicherheit und unsere Ausrüstungen. Mit Handschuhen ist man definitiv auf der sicheren Seite. Oder?
Medizinische Einmalhandschuhe sind ein essenzieller Teil der Schutzausrüstung und kommen immer zum Einsatz, wenn man potenziell infektiöses Material erwartet (Blut oder andere Körperflüssigkeiten). Wir wollen Infektionsketten unterbrechen und Patienten und Personal schützen.
Im OP und bei infektiologischen Risikotätigkeiten ist das alles gut und sinnvoll. Oft scheint aber die gefühlte Sicherheit die Fakten zu verdrängen. Was passiert im klinischen Alltag?
Gleichzeitig leidet eine der grundlegenden Hygiene-Maßnahmen: Die hygienische Händedesinfektion! Wer desinfiziert sich VOR dem Patientenkontakt und VOR dem Tragen von Handschuhen die Hände? Wer trägt Handschuhe anstatt sich die Hände zu desinfizieren?
Es gibt viele Studien, die zeigen, dass bei der Verwendung von medizinischen Handschuhen die notwendige hygienische Händedesinfektion entfällt. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung des Personals völlig anders: In einer Studie zeigte sich 100 % gefühlte Desinfektion versus 42 % realer Desinfektion VOR dem Anziehen der Handschuhe. Danach ist es auch nicht besser: Das Risiko der Kontamination und Übertragung von Pathogenen durch fehlende Desinfektion danach bzw. unsachgemäße Handhabung ist bei Handschuhen ein reales Problem.
Indikationen zur Händedesinfektion - egal, ich hab ja Handschuhe ... (Quelle: www.aktion-sauberehaende.de)
Das hat zur Folge, dass schon die Handschuhboxen zu potenziellen Keimschleudern werden und das Tragen der Handschuhe ein Risiko wird, anstatt zu schützen. Handschuhe geben Keime besser weiter als nicht desinfizierte Hände. Und der Schutz trügt sowieso – oft sind die Handschuhe bereits vor Benutzung beschädigt und zudem alles andere als dicht. Wer schon einmal die Probe mit Schwarzlicht-aktivem Desinfektionsmittel gemacht hat (Handschuhe desinfizieren, dann ausziehen und Hände unter Schwarzlicht ansehen), wird staunen oder erschauern, wieviel da durchgeht. Sterile Handschuhe oder robustere Modelle, die in Endoskopie und Intensivpflege verwendet werden, sind deutlich besser. Aber eben auch teurer.
Ein ganz anderer Aspekt ist der Beitrag des Gesundheitssystems zur Verschmutzung des Planeten.
Ein paar Zahlen:
In diesen irrsinnigen Größenordnungen kann es nicht weitergehen, erst recht nicht wenn der Einsatz sogar (oft) kontraproduktiv ist. Das Gesundheitssystem ist trotz der gefühlten Blase nicht entkoppelt vom Rest der Welt und steht genauso in der Verantwortung wie alle, bedacht und klug mit den begrenzten Ressourcen umzugehen.
Bei vielen Maßnahmen ist eine hygienische Händedesinfektion vor und nach Patientenkontakt völlig ausreichend. Wenn wir das „5 Momente“-Konzept der WHO beherzigen und gleichzeitig vor dem Griff in die Handschuhbox einmal innehalten und nachdenken, ist schon sehr viel gewonnen – für den Patienten, für den Planeten und nicht zuletzt auch für die Klinikkasse.
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