Prostatakarzinome scheinen in ländlichen Gegenden häufiger vorzukommen – könnten Pestizide daran schuld sein? Das hat jetzt eine großangelegte Studie untersucht.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Glyphosat erreichte in den letzten Jahren Berühmtheit. 2015 veröffentlichte die WHO einen Report, in dem über die karzinogenen, embryotoxischen und neurotoxischen Gefahren des Herbizids berichtet wurde. Im November 2023 stimmten die EU-Mitgliedstaaten über die weitere Zulassung für Glyphosat ab: Da hier jedoch keine Mehrheit in die eine oder andere Richtung erreicht wurde, verlängerte die EU-Kommission die Zulassung für weitere 10 Jahre.
Der Ausschuss für Risikobeurteilung (Committee for Risk Assessment, RAC) kam zu dem Entschluss, dass „die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse die Kriterien für die Einstufung von Glyphosat als spezifische Zielorgan-Toxizität oder als krebserzeugende, erbgutverändernde oder fortpflanzungsgefährdende Substanz nicht erfüllten.“
Nun erregte eine amerikanische Studie zum Thema Pestizide und Prostatakarzinome neue Aufmerksamkeit. 22 Pestizide sollen im Zusammenhang stehen, die Inzidenz von Prostatakarzinomen zu erhöhen. Vier davon würden zur gesteigerten Prostatakarzinom-spezifischen Mortalität beitragen.
Bislang wurde wenig erforscht und verstanden, inwiefern sich Pestizide auf Prostatakarzinome auswirken. Jedoch lässt die ungleiche geografische Verteilung von Prostatakarzinomen in der Bevölkerung vermuten, dass sich einige Umwelteinflüsse auf die Inzidenz auswirken. Einige Studien haben einen Zusammenhang zwischen Landarbeitern und anderen Berufsgruppen, die mit Pestiziden arbeiten, festgestellt – allerdings waren die Studienpopulationen zu klein ausgelegt oder die Substanzen wurden nicht einzeln untersucht.
Die Forschungsgruppe unter der Leitung von Dr. Soerensen von der Universität in Stanford verfolgten einen anderen Ansatz und veröffentlichten ihre Ergebnisse ihrer großangelegten Langzeitstudie Anfang November in Cancer der American Cancer Society.
Soerensen et al. untersuchten den Zusammenhang zwischen 295 Pestiziden und der Prostatakarzinom-Inzidenz in 3.107 Counties in 48 Staaten der USA. Hierbei handelte es sich um eine Assoziationsstudie, die einen Untersuchungszeitraum von 10–18 Jahren zwischen Exposition und Erkrankung aufwies. Als primäres Outcome wurde die Prostatakarzinom-Inzidenz und als sekundäres Outcome die Prostatakarzinom-spezifische Mortalität definiert. Die Daten stammen vom National Cancer Institute, dem Department of Human Health Service sowie dem Center of Disease Control. Die Standardpopulation bezog sich auf die im Rahmen des Zensus 2000 erhobenen Bevölkerungsdaten.
Das National Quality Assesment Project aus dem Geological National Survey Synthesis Project stellte seine Daten zum Pestizidverbrauch bereit. So wurde für jedes County der Einsatz des jeweiligen Pestizids pro Kilogramm zwischen 1997 und 2007 bestimmt. Nur Substanzen, die in mindestens 35 Counties verwendet wurden, flossen in die Analyse mit ein. Die kumulative 5-Jahres-Exposition wurde jeweils für eine Entdeckungskohorte im Zeitraum von 1997–2001 und für eine eine Replikationskohorte im Zeitraum von 2001–2006 bestimmt.
Die Autoren wendeten eine multiple lineare Regressionsanalyse an, um den Zusammenhang zwischen der 5-Jahres-kumulativen Exposition und der Prostatakarzinom-Inzidenz für jedes der 295 Pestizide zu untersuchen. Zusätzlich wurden Confounder wie z. B. soziodemografische Faktoren oder landwirtschaftliche Aspekte bestimmt und in der Analyse berücksichtigt. Um die mögliche Exposition durch benachbarten Counties zu identifizieren und Cluster aufzudecken, wurde zudem eine räumliche Autokorrelation durchgeführt.
Letztendlich wurden 22 Pestizide entdeckt, die mit einer Signifikanz von p<0,05 in beiden Kohorten mit dem vermehrten Auftreten von Prostatakarzinomen assoziiert waren. Darunter befanden sich drei Herbizide, die bereits früher mit erhöhter Prostatakarzinom-Inzidenz (2,4-Dichlorphenoxyessigsäure, Linuron, Cabaryl) assoziiert waren. Sieben stufte die EPA (USA Environmental Protection Agency) schon als möglich karzinogen ein. Die karzinogene Wirkung von Diuron, einem Urea-Herbizid, auf Nieren-, Blasen- und Mamma-Karzinome wurde bereits in Tiermodellen bestätigt.
Von den 22 Substanzen wurden drei Herbizide (Trifluralin, Cloransulam-Methyl und Diflufenzopyr) und ein Insektizid (Thiamethoxam) zusätzlich mit einer erhöhten spezifischen Mortalität in beiden Kohorten assoziiert.
Von den vier Pestiziden, die mit einer erhöhten Mortalität assoziiert wurden, ist bisher nur Trifluralin als potentiell karzinogen seitens der EPA eingestuft. Trifluralin, Diflufenzopyr und Thiamethoxam werden in der EU nicht mehr verwendet. Für Cloransulam-Methyl lässt sich zumindest kein Eintrag in der Datenbank der zugelassenen Pestizide wiederfinden.
Von den weiteren 18 Pestiziden sind neben dem bekannten Herbizid Glyphosat auch 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure, Tribenuron, Thifensulfuron-methyl, Pendimethalin sowie zwei Fungizide (Trifloxystrobin, Azoxystrobin) und ein Insektizid (lambda-Cyhalothrin) in der EU zugelassen.
Die Studienpopulation erstreckte sich fast über die gesamten USA – das gewährleistet, die best mögliche relevante Menge an Exposition durch Pestizide in eine Studie einzubeziehen. Zudem gab es innerhalb der Studie die Möglichkeit, die Effektgrößen der Pestizide zu vergleichen, da jede Anhebung der Pestizidmenge pro Kilogramm um eine Standardabweichung in eine Erhöhung der Inzidenz resultierte.
Die Autoren gaben jedoch auch einige Schwächen der Studien zu: So konnten keine Aussagen auf individueller Ebene getroffen werden. Ob Erkrankte wirklich einer höheren Pestizidmenge ausgesetzt waren als Nicht-Erkrankte, ist nicht nachvollziehbar. Die Zeit des Auftretens von Prostatakarzinomen nach Exposition könnte auf individueller Ebene durch Expositionsmenge und -zeit sowie Prädisposition stark variieren.
Zudem könnte ein Missklassifikationsbias durch mögliche Umzüge in andere Staaten oder Landkreise vermutet werden. In diesen Jahren sei jedoch eine geringere Migration beobachtet worden – der Effekt würde also klein ausfallen, so Soerensen et al.
Die Studie identifizierte 22 von 295 Pestiziden, bei denen sich eine statistische Assoziation zwischen der Exposition und der Karzinominzidenz zeigte. Die kumulative Exposition wurde auf Landkreisebene berechnet, daher wurde eine Analyse auf individueller Ebene zwischen tatsächlich Erkrankten und deren Exposition nicht durchgeführt. Die Autoren führen die Notwendigkeit zur weiteren Erforschung von Gesundheitsrisiken der 22 Substanzen auf.
Eine Stellungnahme seitens des Bundesamts für Verbraucherschutz oder der EU-Kommission wurde zum jetzigen Zeitpunkt nicht veröffentlicht. Ob die Studie weitere Untersuchungen der erwähnten Pestizide anstoßen wird, bleibt abzuwarten.
Zusammenfassung für Eillige
Quellen:
Soerensen et al. Pesticides and Prostate Cancer Incidence and Mortality: An Environmental Wide Association Study. Cancer, 2024. doi: 10.1002/cncr.35572
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